Wahl in der Türkei:Entschieden wird auch im Ausland

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(Foto: Michael Holtschulte (Illustration))

Recep Tayyip Erdoğan hat die Stichwahl um die türkische Präsidentschaft gewonnen. SZ-Leserinnen und -Leser diskutieren, wie ausländische Stimmen dabei geholfen haben.

"Um Herz und Verstand" vom 31. Mai und "Hochburg Almanya" und "Triumph und Tränen" beide vom 30. Mai und "Ampelkoalition will Einbürgerungen erleichtern" vom 19. Mai:

Keine plakativen Schlussfolgerungen

Es kann wohl keinem Zweifel unterliegen, dass die türkischen Wähler eine Alternative zu Erdoğan hatten. Alles, was wir hierzulande so gerne an seiner Politik kritisieren, war aber für einen Teil dieser Wähler offensichtlich weniger entscheidend als das Gefühl der Zugehörigkeit zum konservativ-religiös-nationalen Milieu, dessen Verkörperung die AKP und Erdoğan für sie sind.

Weil auch viele hier lebende Türken diesem Milieu entstammen, kann die relative Stärke dieser Partei und ihres Kandidaten in Deutschland nicht verwundern. Umso wichtiger ist es, mit Gökalp Babayigit festzuhalten: Die weitaus meisten hier lebenden Türken haben entweder überhaupt nicht oder jedenfalls nicht Erdoğan gewählt.

Interessant fände ich, wie es bei türkischstämmigen Wählern mit doppelter Staatsbürgerschaft aussah: Haben sie weniger häufig für Erdoğan gestimmt als solche mit ausschließlich türkischem Pass? Und wie wählen diese Menschen bei deutschen Wahlen zum Beispiel zum Bundestag? Anders als ehemalige Landsleute, die inzwischen nur noch einen deutschen Pass haben?

Eine genaue Untersuchung dieser Zusammenhänge würde wohl zu einem sehr viel differenzierteren Bild der Gruppe der deutsch-türkischen beziehungsweise türkisch-deutschen Bevölkerung beitragen. Man würde feststellen, dass es sehr verschiedene Grade der Verwurzelung im Ursprungsmilieu gibt und womit diese statistisch korrelieren. Mit der Aufenthaltsdauer, dem Einkommen, der Bildung und so weiter. Der Übergang von einer Kultur zur anderen beziehungsweise deren Verschmelzung sind komplizierte und langwierige Prozesse. Sie eignen sich eher nicht für plakative politische Schlussfolgerungen.

Axel Lehmann, München

Stimmen aus Schweiz und England

Nun ist die Stichwahl in der Türkei auch vorbei. Die von vielen erwartete Überraschung blieb jedoch aus. Mit knappem Vorsprung hat sich der bisherige Amtsträger Recep Tayyip Erdoğan gegen seinen Herausforderer, Kemal Kılıçdaroğlu, durchgesetzt. Es wäre sehr interessant zu erfahren, weshalb einzig in der Schweiz und in England die Mehrheit der dort lebenden Türken Kılıçdaroğlu wählten.

Hans Gamliel, Rorschach/Schweiz

Wahl des Kontrahenten

Wahlen werden bekanntlich nicht nur von politischen Inhalten, sondern auch von der persönlichen Ausstrahlung und Popularität der jeweiligen Kandidaten beeinflusst. Erdoğan hat deshalb die Popularität des Istanbuler Oberbürgermeisters und möglichen Präsidentschaftskandidaten Ekrem İmamoğlu vollkommen zu Recht als größte Gefahr für seine Wiederwahl erkannt, weshalb er ihn rechtzeitig durch ein fragwürdiges Politikverbot verurteilen ließ. Dass İmamoğlus farbloser Ersatzmann, Kemal Kılıçdaroğlu, trotzdem noch so gut abgeschnitten hat, belegt Erdoğans zu kritisierende Entscheidung.

Somit ist die Aussage, dass wenn Ekrem İmamoğlu gegen Erdoğan hätte antreten können, er durch seine Popularität und sein gegenüber Kılıçdaroğlu wahrscheinlich auch wirkungsvolleres Auftreten in der Vorwahlphase die Wahl vermutlich zu seinen Gunsten entschieden hätte, durchaus realistisch.

Dietrich Schneider, Bergheim

Opposition ermuntern

Der Wahltag war ein schwarzer Tag für die Menschen in der Türkei. Darüber können auch die Jubelfeiern der Erdoğan-Anhänger nicht hinwegtäuschen. Der Opposition stehen schwere Zeiten bevor, weil Recep Tayyip Erdoğan sein autokratisch-diktatorisches Regime noch weiter ausbauen wird und seine Kritiker noch stärker kriminalisieren wird als bisher.

Laut Amnesty International befinden sich Hunderte Oppositionelle in Gefängnissen. Sie sind nichts anderes als politische Gefangene, die von ihrem Menschenrecht auf Meinungsfreiheit Gebrauch gemacht haben. Doch Menschenrechte werden von Erdoğan mit Füßen getreten.

Man muss die Opposition ermuntern, mutig weiter ihre Kritik an der faktischen Quasi-Diktatur im Lande vorzubringen. Das Wahlergebnis selbst ist auch deshalb zustande gekommen, weil es in der Türkei inzwischen fast nur noch gleichgeschaltete Medien gibt. Demokratinnen und Demokraten in der Türkei muss die Solidarität aller freiheitsliebenden Menschen in Europa und der Welt gelten.

Manfred Kirsch, Neuwied

Schwere Zeiten für Andersdenkende

Vor einigen Jahrzehnten bereisten wir die Türkei. Wir waren beeindruckt von den Hinterlassenschaften der unterschiedlichsten Völker. Welch eine Geschichte spiegelte sich in den Ausgrabungen und Museen, angefangen bei Hattusas oder Troja. In dem damals säkularisierten Land begegneten uns zugewandte und gastfreundliche Menschen. Atatürk hatte versucht, die Türkei in die Moderne zu führen.

Kopftuch tragende Frauen sahen wir nur bei der Landbevölkerung, doch das Kopftuch in hellen Farben wurde - wie auch bei Frauen hierzulande - leicht wie ein Dreiecktuch unter dem Kinn gebunden. Nichts erinnerte an die heutigen "Kopftuchfrauen", die wie Erdoğans Frau bis auf das Gesicht alles verhüllen. Religion wurde trotzdem gelebt; wenn der Muezzin, zum Beispiel in Diyarbakir, zum Gebet rief, fühlten wir uns wie im richtigen Orient.

Nach der Wiederwahl Erdoğans am Wochenende erleben wir gerade Schreckmomente. Wie kann es sein, dass hier in unserer Demokratie lebende Menschen mit türkischem Hintergrund diesen diktatorisch agierenden Mann so bejubeln, der für Unfreiheit und Unterdrückung nicht nur der Opposition, sondern auch von Journalisten steht und dafür verantwortlich ist? Sein Protzpalast und die Wirtschaftsmisere, sein Kurdenhass und seine Unfähigkeit beim letzten großen Erdbeben, die Korruption im Land. Wie passt dies alles zusammen, und warum sehen seine Anhänger das nicht?

Ich hätte mir gewünscht, dass Straßenkorsos hier in Deutschland untersagt worden wären, wo doch die wenigen Aktivisten der "Letzten Generation" beim Festkleben auf Straßen wegen Verkehrsbehinderung belangt werden. Den jubelnden Mitbürgern mit türkischem Hintergrund hätte ich gerne zugerufen: "Warum zieht ihr nicht in die Türkei, wenn ihr diesen Mann so liebt und gewählt habt?" Auf Andersdenkende werden schwere Zeiten zukommen.

Brigitte Broßmann, Neubiberg

Definition: Staatsbürger

Eine Nation definiert sich durch Sprache, Kultur, Territorium und ihre staatlichen Institutionen. Mitglieder einer Nation werden, nach unserer westlich-abendländischen Vorstellung, Staatsbürger genannt. Der Begriff des Bürgers ist in unserem Kulturkreis von der griechischen Polis über Mittelalter und Französische Revolution bis hin zur Gegenwart entstanden und hat eine große politische Bedeutung. Der Begriff des Bürgers, auch des Staatsbürgers, mit all seinen, maßgeblich in der Französischen Revolution errungenen Rechten und Pflichten, existiert in dieser Form in den meisten Ländern dieser Welt nicht.

Da lebt einer hier schon so lange, hat schon immer brav seine Steuern gezahlt, dann soll der doch auch hier Staatsbürger werden, selbst wenn er unsere Sprache kaum beherrscht, er mit seinem zweiten Pass weiterhin die Diktatoren seines "Heimatlandes" wählen kann. Diese Argumente unterstreichen eine Entwicklung, die Hannah Arendt vor Jahrzehnten treffend auf den Punkt gebracht hat: Der Konsument wird immer über den Bürger obsiegen.

Aktive Teilhabe und Integration generieren Mitbestimmung. Grundlage dafür sind gemeinsame Sprache sowie gemeinsame kulturelle Werte und gesellschaftliche Ziele, die Kernidee der Townhall Meetings der amerikanischen Revolution, nicht das Verharren in Parallelgesellschaften und nicht, sich das Beste aus vielen Welten zu nehmen. Dieser Gesetzesentwurf und seine Propagierung in der SZ werden also bestenfalls rechtsextremen Gruppierungen neuen Zulauf bringen, ansonsten aber nichts in unserem Land besser machen.

Dr. med. Thomas Lukowski, München

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