Bürgergeld:Lohnt sich Arbeit noch?

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(Foto: Denis Metz (Illustration))

Zuwendungsmissbrauch gab es schon immer, wissen SZ-Leser und -Leserinnen. Wie sehr belastet das den Staat, wie streng müssen Gesetze sein? Die Meinungen gehen auseinander.

"Letzter Angriff aufs Bürgergeld" vom 22. November, "Die Entgiftung", und "Hier die Not, da der Neid" vom 19. November, "Es wird knapp für das Bürgergeld" vom 15. November und weitere Artikel:

Arbeitsverweigerer und Politiker

Ich kann Heribert Prantls Ausführungen zum neuen Bürgergeldgesetz nur zustimmen. Die C-Parteien behaupten, dass sich bei niedrigem Einkommen das Arbeiten nicht mehr lohnen würde. Doch es lohnt sich: Geringverdiener können diverse finanzielle Unterstützungen beantragen, tun etwas für ihre Rente, wissen um ihren Beitrag zum Steueraufkommen und haben ein höheres Selbstwertgefühl. Natürlich wird es immer Menschen geben, die gesetzliche Hilfeleistungen missbrauchen, sich vor der Arbeit drücken, obwohl sie dazu verpflichtet sind - aber wie viele sind es?

Auch die Kritik am Schonvermögen halte ich für überzogen: Wie viele Menschen sind davon betroffen? In 30 Jahren in der sozialen Beratung der Caritas hatte ich viel mit Menschen zu tun, die auf Arbeitslosenhilfe, Arbeitslosengeld II oder Hartz IV angewiesen waren. So gut wie alle wollten arbeiten, um vom Arbeitsamt unabhängig zu sein. Sie waren für meine Unterstützung bei Bewerbungen und Lebensläufen dankbar. Arbeitsverweigerer? Vielleicht eine Handvoll. Vermögen? Keiner. Die meisten hatten Schulden oder Rückstände bei Strom oder Miete. Wenn ich alle Arbeitslosen mit den ein bis zwei Prozent Arbeitsverweigerern gleichsetze, ist das unfair und menschenverachtend. Dann könnte ich auch von ein bis zwei Prozent Politikern, die aus meiner Sicht unmoralische Provisionen für die Vermittlung von Corona-Schutzmasken erhalten haben, auf alle schließen und behaupten, dass es Politikern nur ums eigene Wohl geht. Aber ich will nicht unfair sein und halte mich zurück.

Michael Münch, Ebersberg

Schöngerechnet

Wieder wird ein Gesetz vorangepeitscht, das Hubertus Heil den Bürgern als sozialverträglich verkauft. Betrachtet man das Schonvermögen (15 000 Euro), das unangetastet bleiben soll, erkennt man, dass dies unsozial gegenüber Pflegebedürftigen ist. Denn bei ihnen gibt es kein Schonvermögen. Der Staat holt sich alles und nimmt nähere Angehörige sofort in Regress. Es ist ein unausgewogenes Gesetz, das einen Teil der Bevölkerung benachteiligt und nur der Partei dienen soll.

Helmut Schuessler, Augsburg

Stundung und Policen

Eigentlich will der Staat, dass die Bürger Rücklagen bilden, damit sie in Notlagen darauf zurückgreifen. Folgerichtig scheint es da, erst das eigene Geld aufzubrauchen. Andererseits tut es weh, wenn sich über viele Jahre Angespartes innerhalb weniger Monate in Luft auflöst. Eine einfache Lösung gibt es nicht. Oder doch? Vielleicht könnte man die Möglichkeit schaffen, eine Art Stundung mit dem Arbeitsamt zu vereinbaren oder sein Vermögen zu behalten, wenn man später Unterstützungsleistungen zurückzahlt. Man sollte in Not geratene Bürger nicht wie hoffnungslose Fälle behandeln, sondern wie ein nur vorübergehend weniger handlungsfähiges Wirtschaftssubjekt, mit dem man etwas aushandeln kann. Und warum muss der Bezug von Arbeitslosengeld I, eine klassische Versicherungsleistung, so starr geregelt sein? Könnte man den Bürgern nicht Policen mit höheren Beiträgen und längerem Bezug anbieten?

Axel Lehmann, München

Unwürdig

Das Bürgergeld bedient ein Existenzminimum. Es kann also keine Ohrfeige für Menschen, die jeden Morgen zur Arbeit gehen, sein, sondern für die Arbeitgeber, die ihre Mitarbeiter mit dem Existenzminimum abspeisen. Daran muss sich etwas ändern. Arbeit muss sich wieder lohnen. Die Schwächsten der Gesellschaft gegeneinander auszuspielen, ist unwürdig.

Heidrun Hübner, München

1146 Jahre Bürgergeld

Die CSU hat vorgerechnet, dass ein Paar mit zwei Kindern 2908 Euro Bürgergeld pro Monat bekommt. Das ist Steuergeld. Andrea Tandler hat etwa 48 Millionen Euro Provision für ihren Maskendeal bekommen. Auch das ist Steuergeld, denn die Provision wurde ja auf den Preis draufgeschlagen. Mit der Provision könnte eine Familie 1146 Jahre lang Bürgergeld beziehen. So könnte man auch bei Sauter und Nüßlein nachrechnen.

Klaus Weiß, München

Geben und Nehmen

Betroffen von der Änderung von Hartz IV zum Bürgergeld sind nicht nur die Empfänger von Leistungen, sondern auch diejenigen, die bezahlen. Und das ist nicht die Regierung oder der Staat, sondern das sind diejenigen, die arbeiten und Steuern und Sozialleistungen bezahlen. Solche Ausgabenorgien sollten so betrachtet werden, als wenn jemand zum Nachbarn geht und dort um Geldgeschenke bittet. Dann bekämen wir vielleicht auch wieder ein realistischeres Bild von Geben und Nehmen. Denn das Geld fehlt an anderer Stelle, etwa bei den Krankenkosten oder zu einer weiteren Erhöhung des Mindestlohns. Dort wäre es weit besser angewendet.

Christian Schneider, München

Zynische Unterstellung

Ja, es gibt und gab immer Menschen, die zahlreiche Einwände gegen eine Arbeitsaufnahme vorbringen. Zehn Kilometer Anfahrtsweg? Nein! Hierarchie? Nein! Teamarbeit? Nein! Kundenkontakt? Nein! Sieben Uhr morgens anfangen? Nein! Schichtarbeit? Nein! Arbeit unterhalb meiner bisherigen Qualifikation? Nein! Eine solche Mentalität ist aller Erfahrung nach mit Sanktionen schwer zu beeinflussen. Doch nur eine überschaubare Minderheit hat sie. Diese Menschen haben oft schwere Phobien, die sie nicht einfach ablegen können. Sie handeln nicht aus finanzieller Kalkulation.

Ich habe als Richter am Sozialgericht Tausende Klagen um Rente wegen Erwerbsminderung bearbeitet. Der größte Teil der Klägerinnen und Kläger war bei Rentenantragstellung schon lange arbeitslos und im Bezug von Arbeitslosengeld II (ALG II). Es konnte mir nur leidtun, dass diese Frauen und Männer im Ergebnis weiterhin ALG II beziehen mussten, weil die ärztliche Begutachtung ein täglich sechsstündiges Leistungsvermögen für einfache Tätigkeiten ergeben hatte und damit ein Rentenanspruch gesetzlich ausgeschlossen ist. Solchen Menschen sind aber Faulheit oder Lebenstüchtigkeit absolut fremd. Sie haben 30 oder 35 Jahre auf der Baustelle, am Fließband, in der Putzkolonne oder im Pflegedienst, in der Müllabfuhr oder in der Straßenreinigung gearbeitet und können aus medizinischen Gründen mit 54 oder 57 Jahren diese Tätigkeiten nicht mehr verrichten. Ihre Vermittlung auf körperlich weniger belastende Arbeiten scheitert, weil ihnen jegliche digitale Erfahrung fehlt, ihre Kenntnisse in Rechtschreibung und Grundrechnungsarten rudimentär sind und weil viele die deutsche Sprache nicht gut genug beherrschen (hoher Migrationsanteil).

Gewiss: Diese Menschen könnten theoretisch noch geschnitzte Figuren in Holzwolle und Schachtel verpacken, an der Pforte Päckchen und Briefe entgegennehmen oder in einem Großraumbüro die Papierkörbe leeren. Solche Arbeitsplätze werden aber nicht angeboten. Deshalb und weil es keine Fortbildungen für sie gibt, werden sie vom Jobcenter mit Sanktionen in Ruhe gelassen. Sie sind und bleiben schweigend armutsbetroffen - auch im Rentenalter, weil zehn oder 15 Jahre ALG II-Bezug den Altersrentenanspruch zusammenschrumpfen lassen. Diese Frauen und Männer tun so manches, vielleicht verdienen sie sich mit Babysitten oder Laubkehren ein paar Euro dazu. Eines aber tun sie nicht, anhand von Tabellen ausrechnen, ob Arbeiten sich lohnen könnte. Diese in der Diskussion um das Bürgergeld vorherrschende Unterstellung ist zynisch, sozialwissenschaftlich absurd, sie bedient wohlfeile Verachtungsmuster, hilft den Betroffenen nicht und verschafft der Wirtschaft keine neuen Arbeitskräfte.

Andreas Knipping, Eichenau

Selbst verantwortlich

Das Thema Bürgergeld versus Arbeitseinkommen ist komplex. Bei den vorgelegten Berechnungsbeispielen von CSU und DGB fehlen mir Fahrt-, Kita- und Verpflegungskosten, die vielleicht aufgewendet werden müssen, um Arbeit überhaupt ausüben zu können. Kosten, die ein Bürgergeldempfänger nicht aufzubringen braucht. Die Berechnung des DGB vermittelt den Eindruck, der monatliche "Mehrerlös" aus Vollzeitarbeit betrage 731 Euro und stehe für die Lebensgestaltung zur Verfügung. Zieht man aber diese Kosten ab, verringert sich der frei verfügbare Mehrerlös erheblich. Das, was bleibt, muss also ausreichend sein, um monatlich 160 Stunden (+/-) Lebenszeit aufzuwenden, um einer ausbildungsadäquaten - häufig schlecht bezahlten - Arbeit nachzugehen.

Ein dramatischer Webfehler in der Gedankenwelt aller links gerichteten Parteien liegt darin, nicht anerkennen zu wollen, dass es viele Menschen gibt, die intellektuell und nach ihrer Motivation benachteiligt sind - um die Worte "dumm" und "faul" zu vermeiden. Weiter verkennen sie, dass es nicht Aufgabe des Staates ist, mangelnden Geist und mangelnden Fleiß aufzufangen, als verfügten diese Menschen über die Fähigkeit, ihre Defizite abzuarbeiten. Das Gegenteil ist der Fall. Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr. Aufgabe des Sozialstaates ist, die Grundbedürfnisse eines Hilfsbedürftigen zu befriedigen. Für alles Weitere ist er selbst verantwortlich. Dies haben all jene erkannt, die ohne Berufsausbildung Politiker geworden sind. Die staatliche Alimentierung eines politischen Mandats ist die Höchstform des bedingungslosen Grundeinkommens.

Jürgen Lennartz, Wülfrath

Fragwürdiges von der Union

Was in der Diskussion gern vergessen wird: Schon Hartz IV wäre humaner ausgefallen, hätten CDU/CSU mit ihrem fragwürdigen Menschenbild seinerzeit nicht noch einige Gemeinheiten hineinverhandelt. Nun haben sie es wieder geschafft. Wegen drei Prozent der Erwerbslosen, die in der reichlich löchrigen sozialen Hängematte liegen, sollen vorsichtshalber alle anderen schikaniert werden? Wie erbärmlich. Denselben Elan, mit dem die Union auf Kosten künftiger Bürgergeldbezieher Wahlkampf macht, wünsche ich mir beim Aufspüren der hoffentlich auch nur drei Prozent Steuerhinterzieher. Die schaden der Gesellschaft weit mehr als die paar Armen in der Hängematte.

Ursula Walther, Herzogenaurach

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