Krisengebiet:"Es wird immer Opfer geben"

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Schwer bewaffnet: Taliban-Kämpfer in der afghanischen Hauptstadt Kabul kurz nach ihrer Machtübernahme im August 2021. (Foto: dpa)

Wer als Reporter aus Kriegsgebieten berichtet, muss Zusammenhänge verstehen, braucht Sinn für Zwischentöne, sollte neugierig sein und nicht Partei ergreifen. Alles angesichts oft schwer erträglicher Zustände.

Von Tomas Avenarius

Jeder Beruf hat seine Eigenheit. Reporter dringen in fremde Welten und fremde Leben ein. Sie sehen sich um, stecken ihre Nase in die Angelegenheiten und Befindlichkeiten anderer Menschen, Gesellschaften oder Länder - ob gut oder schlecht, arm oder reich, modern oder traditionell, High-Tech oder rückständig, Demokratie oder Diktatur. Nicht immer sind diese Stippvisiten erwünscht, oft genug bestenfalls geduldet. Die professionellen Eindringlinge stellen Fragen, machen sich Notizen, drehen Videos, schießen Bilder, nehmen Sound-Bites auf. Dann reisen sie zurück nach Hause, schreiben ihre Eindrücke, Einsichten und Urteile - manchmal auch Fehlurteile - auf, lassen ihr Publikum teilhaben. Später wenden sie sich neuen fremden Welten zu.

Nicht alle sind Generalisten. Im Gegenteil, die meisten spezialisieren sich. Eine oder einer kann sich den Buckingham Palace zur Lebensaufgabe machen. Das britische Königshaus und der daran hängende Zopf an Prinzen und Prinzessinnen, Kirchen, Schlössern und Ritualen samt pfundschwerer Ordenspangen ist ein von außen kaum durchschaubarer Kosmos. Aber wenn der Kronprinz in der von den Boulevardblättern und Hochglanzheftchen gefeierten Ehe mit seiner angeblichen Traumprinzessin fremdelt oder die fast hundertjährige Königin dann doch ganz unerwartet stirbt, kann der Reporter dem Leser, Hörer oder Zuschauer ein Fenster in diese hermetisch abgeschlossene Welt öffnen.

Dann zahlt sich die jahrelange Hof-Expertise aus. Aber die allein reicht nicht. Wenn der Reporter oder die Reporterin gut sind, erklären sie im selben Satz oder Atemzug, was sich hinter dem historisierenden Mummenschanz verbirgt: Interessen und Politik vor der royalen Tapete britischer Geschichte und Kultur, Beispiele menschlicher Größe und menschliche Niedertracht.

Aber Krisen- oder Kriegsreporter? Krieg und Gewalt sind keine Nische, keine Sparte, kein spezielles Feld. Krieg und Gewalt sind Bestandteil der menschlichen Existenz. Ebenso wie die Habgier oder die Liebe - nur dass kein halbwegs vernünftiger Mensch auf den Gedanken käme, sich "Habgier"- oder "Liebesreporter" auf die Visitenkarte zu drucken. Weshalb Kriegsreporter eigentlich eine komplett sinnfreie Berufsbezeichnung ist, auch wenn manche sich so nennen.

Die Kultur des Krieges ist in jedem Land, jeder Gesellschaft eine andere

Ein Reporter berichtet über den Krieg? Worüber außer über Leid, Tod, angeblichen oder vielleicht manchmal echten Heldenmut sollte er berichten? Anders sieht es aus in einem aktuellen Konflikt - nur im Zusammenhang mit einem bestimmten Krieg in einem bestimmten Land hat die Darstellung des eben genannten Sinn. Der mit all seinen unterschiedlichen Etappen vier Jahrzehnte alte Krieg in Afghanistan etwa, seit einem Jahr fürs Erste beendet, hat nicht so wahnsinnig viel Ähnlichkeit mit dem inzwischen halbjährigen Krieg in der Ukraine. Die Geographie, die Menschen, Geschichte, Kultur, das politische System und der Entwicklungsstand bestimmen in mindestens demselben Maß wie die eingesetzten Raketen, Panzer oder Gewehre darüber, wie der Krieg in einem Land geführt wird.

Die Kultur des Krieges - ja, die gibt es - ist in Afghanistan eine andere als in der Ukraine oder im Kongo. Und das hängt nicht nur daran, ob es sich um einen Bürgerkrieg oder einen mit Armeen ausgetragenen Konflikt zwischen Staaten handelt. Die Kriegskultur ist spezifischer Teil der Kultur jedes Landes, jeder Gesellschaft. Ein erfahrener Reporter kann dies mit den Kenntnissen, die er gesammelt hat, beschreiben. Aber ein jüngerer kann sich diese auch überraschend schnell aneignen: Neben Neugier ist es die zweite Eigenart des Reporterberufs, kein Fachidiot zu sein.

Man muss nicht Soldat gewesen sein oder auf einer Militärakademie Vorlesungen über Sunzi und Clausewitz gehört haben, um aus einem Kriegsgebiet zu berichten. Schaden tut es sicher nicht, aber ein Krisenreporter ist kein Soldat, kein Offizier. Seine Aufgabe besteht nicht darin, im Schlaf Kalibergrößen rauf und runter deklinieren zu können oder den besserwisserischen Taktikexperten zu geben. Sein Job ist es, die Ereignisse zu beobachten, die Zusammenhänge zu verstehen und dem Leser oder Zuschauer beides in einem zu beschreiben.

Zudem haben Reporter meist Frauen oder Männer an ihrer Seite, die ihnen helfen, ihr Land in der Krise zu verstehen: Fixer. Fixer sind Einheimische, die das Land kennen, die ausgefallene Sprachen muttersprachlich sprechen, die ein Adressbuch voller Kontakte und ein halbwegs fahrtüchtiges Auto haben. Ob im Libanon oder in der Ukraine - Fixer kennen ihren Wert, riskieren manchmal viel, lassen sich dafür fast immer gut bezahlen. Und ihre Honorare steigen, je mehr ausländische Journalisten auftauchen. Denn gebraucht werden sie von fast allen.

Oft töten Soldaten, weil sie abgestumpft sind, manchmal aus Lust an der Gewalt

Der jeweilige Krieg, ob in Berg-Karabach oder im Irak, er ist eben nur über seine Zwischentöne zu verstehen. Wobei es Dinge gibt, die für alle Konflikte gelten. Etwa, dass das, was im Krieg geschieht, nichts zu tun hat mit den Handlungsmustern früher Hollywood-Filme, in denen die Guten den strahlend weißen und die Schurken den tiefschwarzen Hut tragen: Zerstören und Töten tun sie schließlich alle. Nicht immer in Notwehr oder zur Verteidigung des Heimatlandes. Nein, oft aus Abstumpfung, manchmal aus Lust an der Gewalt. Manche Soldaten oder Kämpfer zeigen Menschlichkeit, aber es sind nicht so schrecklich viele. Und je länger der Krieg dauert, desto einsamer werden sie.

Neben dem erstaunlichen Widerstandsgeist der Ukrainer werden es daher wohl Kriegsverbrechen wie die in Butscha, Irpin oder Izyum ein, die von diesem russisch-ukrainischen Krieg in Erinnerung bleiben. Gräueltaten, von oben geduldet oder direkt befohlen, aber mit einem Erklärungsmuster: Russlands Armee als Unterdrückungssystem, in dem die Rekruten von den Altgedienten schon immer geknechtet werden, in dem die Soldaten von korrupten Politikern ohne funktionierende Waffen in den Kampf geschickt, in dem die Truppen von ihren eigenen Kommandeuren so rücksichts- wie sinnlos geopfert werden.

Weshalb manche dieser Soldaten um so brutaler wüten, wenn sie Wehrlosen - Zivilisten oder Kriegsgefangenen - gegenübertreten. Eine Armee dazu, in der die Soldaten Waschmaschinen, Kühlschränke und Stereoanlagen auf ihren verschlammten Schützenpanzern davonkarren. So wie sinnlose Gewalt geduldet wird, ist das Beute machen inoffizieller Teil des Arbeitsvertrags als Kontraktnik, als Vertragssoldat: Plündern als Zulage auf den Sold. Das haben russische Soldaten in Tschetschenien getan, das tun russische Soldaten in der Ukraine.

Das sagt weniger etwas über Russen aus als über den russischen Staat. Eine Armee spiegelt das System und seine Führer wider - ob unter den Zaren, unter Stalin oder unter Putin, ob im Ersten oder Zweiten Weltkrieg, 1979 bis 1989 in Afghanistan, 1994 bis 2006 in Tschetschenien oder jetzt in der Ukraine. Wer wird bei diesem System erwarten - und das bitte ist in gar keinem Fall eine Entschuldigung -, dass die Genfer Konventionen eingehalten werden?

Aber es sich und anderen erklären zu können ist wenigstens etwas angesichts der Unerträglichkeit der Geschehens. Wobei es nicht nur Kriegsverbrechen sind, sondern eben der Krieg als solcher. Der Kommandeur des Kommandos Spezialkräfte der Bundeswehr, Brigadegeneral Ansgar Meyer, hat jüngst etwas sehr, sehr Selbstverständliches gesagt: "Man muss sich darüber im Klaren sein, dass es keinen sauberen Krieg gibt. Es wird immer Kollateralschäden, es wird immer Opfer geben."

Der deutsche General hätte gut hinzufügen können, dass es in so ziemlich jedem Krieg auch Kriegsverbrechen geben wird. Bisher erschienen keine Berichte über großangelegte ukrainische Gräueltaten. Warum eigentlich? Sind Ukrainer besseren Menschen als Russen? Eher unwahrscheinlich. Sie stehen sich kulturell und sprachlich trotz aller Unterschiede nahe, sind Nachbarn, haben 90 zu lange Jahre in ein und demselben totalitären Staat gelebt, untereinander geheiratet.

Möglicherweise wird in Kiew trotz aller Mängel und Korruption seit einem Jahrzehnt einfach besser regiert als in Moskau. Dann wird auch die Armee besser geführt, ist die Disziplin höher. Zumal, wenn die Soldaten wissen, wofür sie kämpfen. Aber der Krieg lässt nicht nur den Angriffskrieger, sondern auch den Verteidiger verrohen. Gibt es wirklich keine ukrainischen Kriegsverbrechen? Bevor man die Welt und die Menschen in die immer Guten und die von Haus aus Bösen unterteilt, sollte man vielleicht noch etwas zuwarten.

Twitter und Facebook sind immer schneller als die Journalisten

Zumal inzwischen nicht mehr nur Reporter aus Krisen und Kriegen berichten und so das Bild des Krieges bestimmen, sondern zunehmend auch die Betroffenen selbst. Soldaten und Zivilisten verbreiten ihre Sicht, ihr Erleben über Twitter und Facebook, sie zeigen das reale Bild aus der Innenwelt einer bombardierten Stadt oder an einer Front.

Was der Außenwelt von ihnen in Echtzeit in Video und Text präsentiert wird, erreicht die Welt schneller, als es die klassischen Medien mit ihren Instrumenten können. Ob die Botschaften der Betroffenen der Wahrheit entsprechen oder nur mehr oder weniger geschickt angerührte Propaganda sind, ist eine ganz andere Frage. Nicht immer ist dies so offensichtlich wie bei den Videos einiger russischer Soldaten, die sich bei ihren Kriegsverbrechen in der Ukraine selbst gefilmt und den Horror dann online gestellt haben, ohne jedes Schuldgefühl.

Um in der ständig wachsenden Digitalflut ein halbwegs objektives Bild zu wahren, bedienen sich immer mehr Journalisten dieser digitalen Plattformen, nutzen und bespielen sie. Was zurück zum Reporter führt. Auch wenn viele Journalisten bei ihrer Arbeit in Krisengebieten behaupten, sie wollten Unrecht bekämpfen, Whistleblower sein und so die Welt zu einem gerechteren Ort machen: Das ist nicht die Aufgabe des Reporters, trotz aller Gräuel eines jeden Konflikts. Ein Journalist sollte nicht Partei ergreifen, nie Partei werden.

Auch nicht, wenn die eine Partei ganz eindeutig im Recht ist und, wie in diesem Fall die Ukraine, ruchlos überfallen wurde. Man ist nicht in einem Krisengebiet, um persönlich zu helfen. Die Versuchung ist groß, Afghanen bei der Flucht vor den Taliban zu unterstützen. Aber ein Journalist ist weder Aktivist noch Menschenrechtler. Nicht einmal in einem Land, in dem es um die Menschenrechte so miserabel bestellt ist wie in Afghanistan, sollte er die Rolle verwässern. Er sollte Journalist bleiben. Das ist seine Aufgabe.

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