Leserbriefe:Was ist faul im Staate Frankreich?

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Polizeikräfte stehen Jugendlichen während Ausschreitungen in Nanterre gegenüber. (Foto: Christophe Ena/dpa)

SZ-Leser analysieren die aktuellen Unruhen und sind sich nicht so sicher, ob es so eine Entwicklung in Deutschland nicht auch geben könnte.

"Mein Frankreich, mein Albtraum" und "Wenn wir explodieren" beide vom 5. Juli, "Tage des Zorns", "Warum Frankreich brennt" und "Mit ruhiger Hand", alle vom 3. Juli:

Andere Perspektiven

Sie kennen den taz-Artikel "Polizisten mit faustdicken Lügen erwischt" vom 2. Dezember 2022 wahrscheinlich nicht. Mehrere Polizeibeamte warfen damals einem Angeklagten Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, Tätlichkeit und Körperverletzung vor. Ein existierendes Video überführte die Beamten der Falschaussage. Hätte der Anwalt das Video nicht erst am letzten Prozesstag gezeigt, wäre die Anklage fallen gelassen worden und es hätte zu dem Fall keine Öffentlichkeit gegeben. Welche Konsequenzen das für die Beamten haben wird, war damals noch unklar.

Wenn jetzt Gastautor Bernard-Henri Lévy fordert, dass die Pauschalisierung und Vermischung einzelner Gruppen strikt zurückzuweisen ist, hat er damit natürlich recht. Es darf aber daran erinnert werden, dass die französischen Beamten vor Auftauchen des Videos mit dem tödlichen Schuss auch hier die Unwahrheit erzählten und ohne Video damit sicherlich durchgekommen wären. Man muss also auch endlich aufhören, Polizeibeamte von vorneherein erst mal für sakrosankt zu erklären, so schwer ihr Job auch manchmal ist.

Der zweite Aspekt ist dieser linksintellektuelle Blick des Autors, wenn er von der ewigen Frage der Massenarbeitslosigkeit spricht. Es ist so eine Art industriepolitischer Blick, der aber doch letztendlich die Pfründen der bisherigen Gewinner der Gesellschaft sichern soll. In Ihrem Artikel "Tage des Zorns" ist das ja gut beschrieben. Die Bewohner der Banlieues dürfen putzen und Regale einräumen, während die traditionelle französische Mittelschicht als Chef des Start-ups im Luxuswagen vorfährt.

Ich weiß nicht genau, wie es in Frankreich ist, in Deutschland trägt aber zum Beispiel das "System IHK" und "Meister", dieses Verweigern eines kulturellen Wandels, sehr zu dem Frust und der Perspektivlosigkeit bei. So darf mein Freund Abdul, der hier übrigens noch dazu 40 Jahre in Fabriken gebuckelt hat, weiterhin eine Änderungsschneiderei betreiben, obwohl er das Schneiderhandwerk von seinem Vater gelernt hat, einen Maßanzug nähen könnte, der einen Christian Lindner vor Neid erblassen ließe, aber nicht darf, nur weil er keinen IHK-Meister hat. Wohlgemerkt, es geht hier um einen Anzug und nicht um Gas, Wasser, Strom, also Dinge, die gefährlich werden können. Ich habe leider nicht den Eindruck, dass der Autor diesen "Kulturkonflikt" sieht.

Karsten Neumann, Nürnberg

Im Stich gelassen

Von 1979 bis 1981 unterrichtete ich an der Universität in Nanterre. Das war damals schon ein Problemviertel. Die Dozenten waren angehalten, alle Räume abzuschließen. Von den Hochhäusern mit Sozialwohnungen gab es regelrechte Raubzüge, um in der Uni alles, was nicht gesichert war, zu stehlen: Möbel, Geräte aller Art, bis zum Kopierpapier. Es gab dort zwar ein Theater ( le "Théâtre des Amandiers"), die Pariser kamen gerne, besonders wenn dort namhafte Gruppen auftraten, zum Beispiel die Berliner Schaubühne. Ansonsten war das Uni-Gelände ziemlich heruntergekommen. Auch die Studenten fühlten sich im Stich gelassen.

Dr. Franz Joachim Schultz, Pottenstein

Gewalt nicht akzeptabel

Herr Kirchner, sie schreiben in Ihrem Kommentar zu den Unruhen in Frankreich über die Vorstädte: "Sie brauchen mehr Geld und mehr Aufmerksamkeit, die Jugendlichen, die auch aus Langeweile Steine werfen und Geschäfte plündern, müssen aufgefangen und einbezogen werden."

Echt jetzt? Finden Sie diese Aussage angesichts der gut dokumentierten und in vielen Fällen selbst gefilmten Ausschreitungen angemessen? Wollen Sie solche Menschen allen Ernstes "auffangen und einbeziehen"?

Sicher, es ist immer richtig, mehrere Seiten zu hören und die Lage auch als Ausdruck sozialer Spannungen zu bewerten. Aber die Gewalt - einer Gruppe von Menschen - hat ein Ausmaß angenommen, das in keinem Staat akzeptabel wäre. Sie ist durch nichts zu rechtfertigen - auch nicht durch das Gefühl, sozial abgehängt zu sein, oder den Alltagsrassismus, den viele erleben.

Ein Wort noch zu Nahel M.: Dieser jugendliche Intensivtäter kann und sollte nicht nur als Opfer von Polizeigewalt stilisiert werden. Es ist schrecklich, dass er erschossen wurde, aber die Vorgänge um seinen Tod sind keineswegs so eindeutig, wie sie erscheinen. Eine Parallele zu George Floyd lässt sich hier jedenfalls nicht so einfach ziehen.

Thorsten Franke-Haverkamp, München

Seitenhiebe auf Melenchon

Ein ausgezeichneter Artikel von Nils Minkmar! Einzig störend, dass er sich mantramäßig - wie nahezu alle Autoren der Süddeutschen Zeitung - einen Seitenhieb auf Jean-Luc Mélenchon nicht verkneifen kann. Ähnlich wie bei Daniel Brössler in einem parallel erschienenen Artikel zu den französischen Unruhen wird Mélenchon wieder mal, sinnbildlich gesprochen, in die Pfanne gehauen.

Vielleicht wird man noch mal froh sein über die Allianz der NUPES, bestehend aus Sozialdemokraten, Grünen und Linken, da sie vielleicht die Einzigen sind, die 2027 mit Mélenchon als Kandidat Marine Le Pen etwas entgegensetzen können.

Wenn aber die sogenannte linksliberale Presse weiter auf Mélenchon einprügelt, wird sie Le Pen den Weg bereiten. Im Übrigen konnte jeder, der die Aussagen von Mélenchon gesehen hat, bestätigen, dass seine Analysen der Unruhen in Frankreich richtig sind.

Rolf Werner, Stolberg

Kritische Parallelkulturen

Als Beruhigungsmittel für die Bevölkerung, allerdings nur mit Placeboeffekt, wird seitens der Politik darauf hingewiesen, dass so etwas wie in Frankreich in Deutschland nicht passieren kann, und als Zaubermittel wird wiederholt der Begriff "Integration" als Eingliederungsprozess in die Zielgesellschaft strapaziert.

So, wie das semantisch interpretiert, gesellschaftlich verstanden und politisch gefordert wird, kann es aber nicht funktionieren. Jeder Migrant transportiert seine eigene Kultur und möchte das bleiben, was er war, und nicht etwas werden, das gefordert wird. Durch ungesteuerte Migration entstehen immer mehr Parallelkulturen, die auf Grund der Masseneinwanderung die "kritische Größe" erreichen und dadurch zum Selbstläufer werden.

Sie entwickeln ihre eigenen Strukturen mit alternativen Wertesystemen und haben, wenn sie groß genug sind, spezielle Regulative und Ordnungssysteme. Auch die Landessprache und die Einbindung in die Wirtschaft sind sekundär, weil Submärkte mit speziellen Kundenstrukturen entstehen. Dann werden die Wertesysteme der Leitkultur nur mehr rudimentär anerkannt, was auch für Exekutive und Justiz gilt, wobei die gesellschaftliche Eigendynamik der Parallelgesellschaften kaum zu bremsen ist.

Das Ergebnis ist eine uneinheitliche Gesellschaftsstruktur mit vielen Konfliktpotenzialen, die täglich größer werden, und die betrifft auch und besonders Deutschland.

Martin Behrens, Wien/Österreich

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