Berlinale:Eine Schande, wirklich?

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"Cease Fire Now", ein sofortiger Waffenstillstand in Gaza: Diese Forderung steht während der Preisverleihung auf dem Rücken vom Berlinale-Jurymitglied Véréna Paravel. Wurde auf dem Festival zu einseitig Partei ergriffen gegen Israel? (Foto: Monika Skolimowska/dpa)

Ein SZ-Autor findet deutliche Worte zur Berlinale: Die aktivistischen Auftritte einiger Preisträger zugunsten der Palästinenser seien antisemitisch. Unter den Leserinnen und Leser gibt es sowohl Zustimmung als auch Widerspruch.

"Gute Nacht" vom 26. Februar und "Die Schande von Berlin" vom 27. Februar:

Schamlose Verachtung jüdischen Leids

Ich danke Frau Vahabzadeh von ganzem Herzen, dass sie all denen, die wie ich mit wachsendem Entsetzen die Preisverleihung der Berlinale 2024 vor dem Bildschirm verfolgt haben, eine Stimme gegeben hat. Was sich auf der großen Bühne abspielte, war an Kulturlosigkeit nicht zu überbieten. Die gesamte Berlinale-Bühne war geeint im Schweigen und in der Akzeptanz und schamloser Verachtung jüdischen Leids in Israel. Aber dass es auch keinen einzigen Menschen im Publikum gab, der aufstand und ein lautes Nein rief, zeugt vom Versagen der dort versammelten Kulturszene.

Heidi Delbeck, Gstadt

Kein Mut zur Klarstellung

Die erschreckenden täglichen Berichte über die Angriffe der Israelis im Gazastreifen haben auch in Deutschland eine zunehmend antiisraelische und antisemitische Bewegung ausgelöst. Dieser Stimmung haben die Veranstalter der Berlinale ungehemmt freien Lauf gelassen. Unter den Zuhörern waren Berlins Bürgermeister Kai Wegner und die Kulturstaatsministerin Claudia Roth. Keiner hatte den Mut, aufzustehen und klarzustellen, dass die Angriffe eine Reaktion Israels auf den brutalen Überfall der Hamas vom 7. Oktober mit unbeschreiblichen Verbrechen sind. Wenn die Hamas an einem Frieden interessiert wäre, würde sie die restlichen Geiseln freilassen und die Raketenangriffe auf Israel einstellen. Dann wären Friedensverhandlungen sicher sofort möglich.

Oskar Lotz, Tutzing

Claqueure der Israelfeindlichkeit

Verstörend an der Berlinale sind die Claqueure, die durchgängig gut gelaunt zu antisemitischen, israelfeindlichen Äußerungen applaudieren. Die antisemitischen Statements waren vorbereitet und gezielt. Man wollte die Berlinale dafür als Bühne nutzen und wusste um ein gefälliges Publikum.

Verstörend ist, dass die Kulturstaatsministerin, der Regierende Bürgermeister und die Berlinale-Chefin zu den Claqueuren gehörten und nicht sofort auf die Bühne gegangen sind. In einem kurzen Statement hätten sie nochmals deutlich machen können, dass Antisemitismus und Israelfeindlichkeit nicht deutsche Staatsräson sind. Die drei sehr couragierten Persönlichkeiten sind doch auch sonst nicht um ein spontanes, laut vorgetragenes Statement verlegen. So ist alles im Nachgang nur ein wenig glaubhaftes Lippenbekenntnis.

Susanne Kopp-Sievers, Uchte

Massaker mit Vorgeschichte

Das Vorgehen Israels als Genozid zu bezeichnen, ist nicht korrekt. Ebenso inkorrekt ist es aber, so zu tun, als sei der Hamas-Terror vom 7. Oktober einfach so vom Himmel gefallen. Dieses Massaker hat eine Vorgeschichte. Und in dieser Vorgeschichte spielt israelisches, nicht von Völkerverständigung geprägtes Verhalten gegenüber den Palästinensern eine Rolle, etwa eine aggressive Siedlungspolitik.

Was sich im Verhalten der israelischen Regierung widerspiegelt, kann man als Palästinenserhass bezeichnen. Ein Zeichen hierfür ist und bleibt die permanente Verweigerung einer Zweistaatenlösung, denn damit müsste man Palästina einen Rang auf Augenhöhe einräumen.

Christian Delanoff, München

Nur eine sachliche Feststellung

Wenn auf der Berlinale Palästinenser oder deren Sympathisanten "From the river to the sea" fordern, sind wir empört. Frau Roth muss sich dafür rechtfertigen, an welcher Stelle sie geklatscht hat. Wenn Israelis den jüdisch-israelischen Anspruch auf das gesamte Land zwischen Mittelmeer und Jordan nicht nur fordern, sondern auch seit Jahrzehnten in die Tat umsetzen, ist uns das dagegen nur eine sachliche Feststellung wert. Passt das?

Klaus Werner, Erlangen

Tatsächlich eine Schande

Vielen Dank für Ihren starken Essay zu den Zwischenfällen bei der Berlinale, Herr Minkmar. Sie sprechen mir aus dem Herzen, aus der Seele, mit wahrem Verstand. Es ist tatsächlich eine Schande, wie sich gerade das liberale und kulturliebende Volk für Antisemitismus instrumentalisieren lässt.

Kathrin Roick, Germering

Verhältnismäßigkeit nicht mehr gewahrt

Die Vokabeln "Genozid" und "Apartheid" sind völlig überzogen und treffen das (durchaus zu tadelnde) Vorgehen der Regierung Israels nicht. Und die islamistisch-fanatische Hamas ist keine "Widerstandsbewegung", sondern eine arabische Todesschwadron. Vor allem sie hat Schuld am Elend der eigenen Bevölkerung. Deutschland dagegen unterstützt die palästinensische Zivilgesellschaft. Die rücksichtslose militärische Antwort Israels auf den in keiner Weise zu rechtfertigenden Überfall von Terroristen auf friedliche Zivilisten ist erstens emotional durchaus verständlich und zweitens rational erklärbar als die Sprache der Gewalt, die vermutlich von den primitiven Gewalttätern am ehesten verstanden wird. Allerdings ist die Verhältnismäßigkeit der Mittel von Israel längst überschritten, und eine demokratisch verantwortliche Regierung ist, anders als die Terroristen, zum Schutz der Zivilbevölkerung verpflichtet. Nur solch einer pflichtbewussten, kompromissfähigen Regierung kann man vertrauen.

Dr. Dietrich W. Schmidt, Stuttgart

Moralische Empörung statt Analyse

Der Artikel von Nils Minkmar zeigt einmal mehr, dass moralische Empörung den Blick für klare Analyse verstellt. Deutschland befindet sich - aus bekannten Gründen - in mehrfacher Hinsicht in paradoxen Lagen. Es sieht sich aus triftigen Gründen zur Solidarität mit Israel verpflichtet. Zugleich unternimmt die Regierung Netanjahu unverblümt Anstrengungen, die Rechtsstaatlichkeit abzubauen, und führt in Gaza unter Inkaufnahme ständiger Verletzungen humanitärer Prinzipien Krieg.

Gegenüber den eingeladenen Kulturschaffenden auf der Berlinale wiederum ist Deutschland verpflichtet, ihnen die Redefreiheit zu gewähren. Und alle Welt weiß, dass gerade Kulturschaffende davon ambitioniert Gebrauch machen, genau das haben sie auf der öffentlichen Bühne getan. Wieso ist das eine "Schande"? Es war zu erwarten. Die Weltgesellschaft produziert ständig paradoxe Situationen, sie lassen sich mit moralischer Empörung nicht verhindern, man sollte sie lieber klar benennen, um geeigneter mit ihnen umzugehen.

Hartmut Krauß, Bielefeld

Nibelungentreue zur fragwürdigen Politik

Was ist antisemitisch an einem Statement für die Menschenrechte, wenn in einer bereits seit Jahrzehnten unterdrückten Region inzwischen mehr als 30 000 getötete, überwiegend unschuldige Menschen quasi als Kollateralschaden schulterzuckend in Kauf genommen werden? Und warum wird bei jeder Meinungsäußerung in diese Richtung gebetsmühlenartig der Hinweis gefordert auf den 7. Oktober, wenn doch der militärische Rachefeldzug der israelischen Regierung längst in keinem Verhältnis steht?

Was auf den Prüfstand gehört, ist die deutsche Nibelungentreue zu einer fragwürdigen israelischen Politik. Die wahre Lehre aus den Verbrechen unserer Vorfahren ist nicht der bedingungslose Schulterschluss mit einer selbst innerhalb Israels umstrittenen rechtsradikalen Regierung. Ein bedingungsloses Eintreten gegen alle Arten von Menschenrechtsverletzungen sollte vielmehr die Lehre sein.

Martin Spiegler, Heidelberg

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