Zukunft der Arbeit:Kluge Köpfe verzweifelt gesucht

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In 15 Jahren werden Millionen qualifizierte Mitarbeiter fehlen, wenn Unternehmen und Politik nicht gegensteuern. Oder ist die Lage weniger dramatisch als vorhergesagt und Unternehmen fürchten sich lediglich davor, ihren Beschäftigten höhere Löhne zahlen zu müssen?

Thomas Öchsner

Hans Müller versucht wirklich alles. Der Warenkaufmann, dessen Arbeitgeber 2010 pleiteging, hat 90 Bewerbungen im Großraum München verschickt - von einem Drittel der Unternehmen bekam er nicht einmal Absagen. Zweimal schaffte es Müller ( Name von der Redaktion geändert) bis zum Bewerbungsgespräch. Er hatte ein gutes Gefühl - eingestellt wurde er nicht. Heute ist sich Müller sicher: "Es liegt an meinem Alter." Der Arbeitslose ist 59.

Arbeitskraft wird mehr und mehr zu einem wertvollen Gut. (Foto: dapd)

"Ich bin fit und will nicht zu Hause herumsitzen", sagt er. Geholfen hat dies dem ehemaligen Einkaufsleiter nichts. Dabei sind Verkäufer und Warenkaufleute gesucht. Sie stehen bei der Bundesagentur für Arbeit (BA) auf Platz eins der Liste der Berufsgruppen, für die es am meisten offene Stellen gibt. Aber Müller ist, das sagen auch seine Betreuer in der Arbeitsagentur, den Firmen zu alt.

Wenn die Zukunft so wird, wie es Arbeitsmarktforscher voraussagen, können Unternehmen in Deutschland sich solche Absagen bald nicht mehr leisten. Die Absagen bekommen dann sie selbst.

Was darin zum Beispiel stehen könnte, hat die Zeitschrift Human Resources Manager, ein Fachorgan für Personalmanager, soeben auf ihrer Titelseite veröffentlicht: "Meine Recherchen im Internet haben ergeben, dass Ihre Unternehmenskultur ausbaufähig ist. Es soll ein rauer Ton herrschen und wenig Handlungsfreiraum sowie Entwicklungsmöglichkeiten geben", heißt es in dem Brief.

Und weiter ist dort zu lesen: "Ich weiß, dass Sie keine flexiblen Arbeitszeitmodelle anbieten. Auf diese wäre ich aber angewiesen, da ich zwei Kinder habe." Der Brief endet mit dem Hinweis: "Sollten Sie Ihre Defizite in der Zukunft abstellen, können Sie mich gerne kontaktieren." Das Schreiben ist natürlich fiktiv, aber es zeigt, wohin die Reise am Arbeitsmarkt gehen könnte. Wegen des Mangels an Fachkräften wird es, zumindest in bestimmten Berufen, noch viel stärker als bisher einen Kampf um gut qualifizierte Mitarbeiter geben.

Doch sind Fachleute wirklich knapp? Im November 2010 wollte Karl Brenke, Arbeitsmarktexperte des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), einen Aufsatz mit dem Titel veröffentlichen "Fata Morgana Fachkräftemangel". Die wichtigsten Thesen des Berliner Wissenschaftlers: Für ein generell knappes Angebot an Arbeitskräften lassen sich keine Belege finden. Die Löhne der Fachkräfte sind kaum gestiegen. Die Zahl qualifizierter Arbeitsloser ist größer als die Zahl der offenen Stellen.

Pech nur, dass der damalige Chef von Brenke, Ex-DIW-Präsident Klaus Zimmermann, das etwas anders sah. Sein Untergebener musste deshalb zumindest die Überschrift der Studie abschwächen. "Fachkräftemangel kurzfristig noch nicht in Sicht", lautete nun der Titel. Der Inhalt bleibt bemerkenswert: "Bei den akademischen naturwissenschaftlich-technischen Berufen ist angesichts des Anstiegs der Studentenzahlen in den kommenden Jahren nicht damit zu rechnen, dass der Bedarf nicht gedeckt werden kann", schreibt der DIW-Experte. Er warnt davor, sich von Klagen der Wirtschaftsverbände blenden zu lassen.

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Nun steckt hinter dem permanenten Jammern stets auch ökonomisches Kalkül: Firmen wollen ihre Mitarbeiter aus einem möglichst großen Pool auswählen. Sinkt das Angebot an bestimmten Arbeitskräften, steigen dafür die Preise - und damit die Löhne. Aber ist es deshalb eine mediale Fata Morgana, wenn vor dem Fehlen kluger und qualifizierter Köpfe gewarnt wird?

Derzeit bewertet die Bundesregierung die Lage noch nicht als dramatisch: "Momentan liegt in Deutschland noch kein allgemeiner und flächendeckender Fachkräftemangel vor", heißt es in ihrem Konzeptpapier zur Fachkräftesicherung. Allerdings, und so sieht es auch die Nürnberger BA, fehlen in bestimmten Regionen und Branchen schon jetzt qualifizierte Mitarbeiter, etwa bei Maschinenbau-, Elektro- und Fahrzeugbauingenieuren, bei examinierten Altenpflegern, bei Erziehern oder Ärzten.

In Zukunft könnte Arbeitskraft generell zum knappen Gut werden. Wenn Unternehmen und Politiker nicht gegensteuern, stehen nach Berechnungen der BA bis 2025 etwa 6,5 Millionen Arbeitskräfte weniger zur Verfügung. Das entspricht ungefähr der Anzahl von Personen, die derzeit in Baden-Württemberg beschäftigt sind. Der Wohlstand des Landes, das kaum Rohstoffe hat und von seinen klugen Köpfen lebt, ist deshalb gefährdet. Schon jetzt warnt BA-Chef Frank-Jürgen Weise: Fehlen Fachkräfte, ziehen Unternehmen ins Ausland oder verlagern Teile der Produktion dorthin.

Der Grund für die Lücke ist der demographische Wandel. Es kommen weniger Kinder zur Welt, die Zahl der Schulabgänger geht zurück. Folglich gibt es weniger Azubis, Berufseinsteiger, Hochschulabsolventen. Vor allem im Fahrzeug- und Maschinenbau und in Gesundheits- und Sozialberufen werden darum Fachkräfte fehlen. Das wird besonders die kleinen und mittleren Unternehmen treffen, die kein aufwendiges Bewerbermarketing betreiben. Was also ist zu tun?

Als Erstes muss Schluss sein mit der Verschwendung menschlicher Ressourcen: Mehr als jeder fünfte Azubi bricht seine Ausbildung vorzeitig ab. Die Hälfte steht danach auf der Straße. Im Jahr 2009 verließen etwa 64.000 Schüler die Schule ohne Abschluss - die beste Voraussetzung für eine dauerhafte Hartz-IV-Existenz.

Bund und Länder wollen deshalb bis 2015 beide Quoten halbieren, das soll bis 2025 insgesamt 600.000 zusätzliche qualifizierte Mitarbeiter bringen. Ob das klappt, bleibt offen. Das gilt auch für die geplante Frauenoffensive. Etwa 6,3 Millionen sind erwerbsfähig ohne zu arbeiten. Und die Frauen mit bezahltem Job sind nicht so lange im Büro oder der Fabrik wie weibliche Berufstätige in anderen EU-Ländern.

Hier schlummert das größte Potential an Arbeitskräften: 1,2 Millionen Frauen würden in das Erwerbsleben eintreten, wenn sich Beruf und Familie miteinander besser vereinbaren ließen. Doch schon jetzt ist zweifelhaft, ob der geplante Krippenausbau ausreichend ist.

Die Bundesrepublik wird deshalb viel stärker als jetzt auf Zuwanderer angewiesen sein. BA-Chef Weise hält 200.000 im Jahr für nötig. Doch das Land ist von der vielbeschworenen "Willkommenskultur" weit entfernt. Es bietet nicht wie Neuseeland oder Kanada ein Rundum-Sorglos-Paket für die ganze Familie mit Sprachkurs, Wohnung, Arbeitsstelle für die Ehefrau und Kindergartenplatz. Für den Programmierer aus Indien, den Arzt aus Kenia oder den Ingenieur aus Brasilien ist es äußerst kompliziert, hier Einlass zu erhalten und dauerhaft bleiben zu können. "Das deutsche Zuwanderungsrecht ist von Abschottung geprägt", sagt Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt.

Das zu lockern, scheiterte bislang am Widerstand der Union. Hinzu kommt: Die Sprache ist schwer zu erlernen. Essen und Klima sind zumindest gewöhnungsbedürftig. Und das internationale Lohngefälle wird flacher. Nach der vollständigen Öffnung des Arbeitsmarkts am 1. Mai kommen nicht so viele Geringverdiener aus Osteuropa wie erwartet ins Land - sieben Euro pro Stunde lassen sich inzwischen auch in Polen kassieren. Die mobilen Qualifizierten sind zudem oft schon in andere Länder ausgewandert. Stattdessen muss Deutschland aufpassen, nicht zu einer Talentschmiede der anderen zu werden: 2008 zogen allein 3000 Ärzte in die Schweiz.

Es bleiben als Potential außerdem die 4,64 Millionen erwerbsfähigen Hartz-IV-Empfänger und die Älteren mit 55 Jahren aufwärts, die in vielen Betrieben immer noch selten zu sehen sind. Der wirtschaftspolitische Sprecher der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion, Joachim Pfeiffer, sagt aber: "Es wird nicht gelingen, jeden Hartz-IV-Empfänger zum Luft- und Raumfahrtingenieur zu machen." Viele sind so schlecht qualifiziert und so weit von den Anforderungen der Arbeitgeber weg, dass sie auch in Zukunft keine Chance haben.

Die Älteren können dagegen hoffen: Die Firmen denken langsam um. Die Beschäftigungsquote der über 55-Jährigen steigt. Die Betriebe bieten Fitnessstudio-Abos und Präventionskurse an. Sie gestalten Arbeitsplätze so um, dass junge und alte Mitarbeiter möglichst lange fit bleiben.

Warenkaufmann Hans Müller hat davon noch nicht profitiert. Bleibt er ohne neuen Arbeitgeber, droht ihm nach 44 Jahren Berufserfahrung vom kommenden Frühjahr an bis zur Rente Hartz IV.

© SZ vom 09.08.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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