Zeiterfassung im Job:Was für eine Chance

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Muss bald jeder Arbeitnehmer mit einer Chipkarte wie dieser ein- und ausstempeln? (Foto: dpa/dpa)

Die Bundesregierung muss die Zeiterfassung in deutschen Unternehmen neu regeln. Das könnte Beschäftigten und Firmen helfen. Wenn es gut gemacht wird.

Kommentar von Henrike Roßbach

Die Stechuhr ist laut Duden ein "mit einem Uhrwerk gekoppeltes Gerät zur Aufzeichnung besonders von Arbeitsbeginn und -ende". Früher funktionierte sie mechanisch, mit Papierstreifen, auf die gestempelt wurde, wann ein Arbeiter in die Fabrik gekommen und wann er nach Hause gegangen ist. Heute halten Arbeitnehmer nur noch einen Chip oder eine Plastikkarte vor die kleinen Geräte, die am Firmeneingang hängen.

Oder auch nicht, denn die Arbeitszeit wird hierzulande mitnichten in allen Unternehmen erfasst; rechtlich ist nur die Aufzeichnung von Überstunden und Sonn- und Feiertagsarbeit zwingend. Damit allerdings könnte es schon bald vorbei sein. Der Europäische Gerichtshof hat im Frühjahr vergangenen Jahres entschieden, dass sämtliche Arbeitszeiten erfasst werden müssen, im Innen- wie im Außendienst, im Büro und im Homeoffice. Und das Rechtsgutachten, das die Bundesregierung dazu in Auftrag gegeben hat, ist eindeutig: So wie es ist, kann das deutsche Arbeitszeitrecht nicht bleiben.

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Die Stechuhr ist das Gegenteil von Freiheit, Vertrauen und Verantwortung

Das ist gleichzeitig eine gute und eine schlechte Nachricht. Die schlechte zuerst: Die Stechuhr ist das Gegenteil von Freiheit, Vertrauen und Verantwortung. Sie erschwert das Arbeiten von zu Hause und von unterwegs, und das Urteil der Richter bedeutet letztlich das Ende der Vertrauensarbeitszeit, wie man sie kennt. Hinzu kommt, dass es gerade für kleine Unternehmen ein nicht unerheblicher Aufwand ist, die Arbeitszeiten ihrer Leute lückenlos zu erfassen. Und letztlich befördert die Stechuhr für alle das Absitzen von Arbeitszeit, wenn mal weniger los ist als sonst - und den pünktlichen Feierabend, selbst wenn der Auftraggeber drängelt.

Die gute Nachricht aber lautet: So muss es nicht sein. Im Gegenteil, die Umsetzung des Urteils in deutsches Recht birgt sogar die Chance auf mehr Flexibilität - und gleichzeitig mehr Fairness im Verhältnis von Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Denn dass in Deutschland viele Überstunden gemacht werden, auch viele unbezahlte, ist eine Tatsache.

Schon heute hat die Zeiterfassung in Unternehmen den positiven Nebeneffekt, dass dadurch Gleitzeit möglich wird. Dass Mitarbeiter zu unterschiedlichen Zeiten kommen und gehen können, dass sie mal länger, mal kürzer arbeiten dürfen, dass Überstunden auf Konten gesammelt werden und sich in freie Tagen verwandeln, wenn der Kindergarten geschlossen hat oder die Oma neunzig wird.

Das Problem aber ist das Arbeitszeitkorsett, in dem Firmen und Arbeitnehmer stecken. Vorgeschrieben sind etwa Tageshöchstarbeits- und Ruhezeiten, die schon durch eine spät abends verschickte E-Mail als unterbrochen gelten. In Zeiten von Smartphones und Laptops, von flexiblen Arbeitszeiten und -orten verstoßen Arbeitnehmer und ihre Firmen deshalb reihenweise und ständig gegen das Arbeitsrecht. Das kann auf Dauer unmöglich so bleiben.

Die Zahl der denkbaren Kuhhandelvarianten ist groß

Wenn nun aber wegen der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs das deutsche Arbeitszeitrecht ohnehin angefasst werden muss, wäre das eine Bilderbuchgelegenheit für die ganz große Lösung: Zeiterfassung ja, im Gegenzug aber auch mehr Beweglichkeit durch die Festlegung einer Wochenhöchstarbeitszeit statt einer maximalen Stundenzahl je Tag. Eine solche Regelung wäre mit der Europäischen Arbeitszeitrichtlinie durchaus vereinbar; das deutsche Recht ist bislang strikter als es der EU-Rahmen zuließe.

Womöglich aber haben Union und SPD andere Prioritäten. Es deutet sich schon an, dass die Koalitionäre im Fahrwasser des Urteils gerne das ein oder andere Lieblingsprojekt mit auf die Reise schicken würden - mit Vorliebe solche, die der anderen Seite eher nicht in den Kram passen. Für die SPD wäre beispielsweise das von ihr geforderte Recht auf Homeoffice ein solcher Kandidat oder das "Arbeit-von-morgen-Gesetz", eine Art Kurz- und Weiterbildungspaket von SPD-Arbeitsminister Hubertus Heil. Die Union dagegen könnte die Chance wittern, der SPD Zugeständnisse bei der Beschränkung befristeter Arbeitsverträge abzuringen - eine allzu strenge Regelung lehnt vor allem der Wirtschaftsflügel vehement ab.

Die Zahl der denkbaren Kuhhandelvarianten jedenfalls ist groß. Hilfreich aber ist es nicht, das ohnehin schwierige Projekt Zeiterfassung mit zig anderen, strittigen Themen zu belasten. Die Modernisierung des starren Arbeitszeitgesetzes wäre Bonbon genug - und dazu noch sinnvoll. Ansonsten dürfte die Suche nach kostengünstigen und unbürokratischen Lösungen für die technische Umsetzung der Zeiterfassung schon vollkommen reichen, um die Regierung im Sinne der Höchstarbeitszeit auszulasten.

© SZ vom 14.01.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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