Arbeitszeiterfassung:"Die Vertrauensarbeitszeit ist faktisch tot"

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Vergangenheit? Zukunft? Eine Zeiterfassungsanlage in einem Berliner Betrieb im Jahre 1943. (Foto: SZ Photo)

Das Urteil des Europäischen Gerichtshof zur Zeiterfassung bedroht die Arbeit im Homeoffice, sagt der Jurist Peter Schrader.

Interview von Christine Demmer

Bald sollen Unternehmen die Arbeitszeiten ihrer Mitarbeiter lückenlos erfassen und dokumentieren. Das hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) entschieden. Arbeitgeber, die das bisher ihren Mitarbeitern überlassen haben ("Vertrauensarbeitszeit"), stellt diese Vorschrift vor ein Riesenproblem, sagt Peter Schrader, Fachanwalt für Arbeitsrecht bei der Kanzlei Laborius in Hannover.

SZ: Mitarbeiter sollen heute möglichst agil arbeiten, flink, wendig und weitgehend selbstbestimmt, sprich: wann und wo sie wollen. Wie verträgt sich das mit der Stechuhr?

Peter Schrader: Überhaupt nicht. Die Arbeitnehmer werden zukünftig gezwungen sein, wann immer sie arbeiten, Beginn und Ende der Arbeitszeit zu dokumentieren. Man kann sich vorstellen, was dies für einen Aufwand darstellt, wenn sie nicht in einem Stück, sondern in vielen Teileinheiten arbeiten, je nachdem, wie viel Zeit ihnen gerade zur Verfügung steht. Die Dokumentation und das Nachverfolgen wird einen erheblichen Arbeits-, aber auch Kontrollaufwand mit sich bringen.

Und jetzt?

Das Urteil schlägt riesige Wellen. Denn die Vertrauensarbeitszeit, mit der die Arbeitgeber die Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften ihren Mitarbeitern anvertrauen, ist faktisch tot. Stattdessen werden jetzt reihenweise Zeiterfassungssysteme installiert, über die sich Mitarbeiter zur Arbeit an- und abmelden.

Arbeitszeiterfassung, Ein Urteil von gestern (Video: Süddeutsche Zeitung)

Auch diejenigen, die zu Hause arbeiten? Wie geht das im Homeoffice ?

Mit der An- und Abmeldung am Firmenserver lassen sich die Arbeitszeiten auf die Minute genau festhalten. Diese Daten bleiben gespeichert, so dass der Dokumentationspflicht Genüge getan wird. Bei der Eigendokumentation des Arbeitnehmers wird der Arbeitgeber nicht umhinkönnen, die Angaben zu Beginn und Ende der Arbeitszeit zumindest stichprobenartig zu kontrollieren. Auch entsteht großer Verwaltungsaufwand.

Und wenn man zwischendurch zu einem Kunden fährt oder sich einen neuen Drucker besorgt? Gehört das nicht zur Arbeit?

Sämtliche Arbeitszeit, auch Kundengänge, zählen zur Arbeitszeit und sind zu dokumentieren. Unter Umständen muss der Arbeitnehmer dies nachtragen, wenn er sich wieder in das System einloggt. Einige Unternehmen gehen dazu über, spezielle Apps zu verwenden, mit denen die Arbeitnehmer sich auch per Handy an- oder abmelden können.

Peter Schrader, Fachanwalt für Arbeitsrecht bei der Kanzlei Laborius in Hannover (Foto: Daniel Moeller)

Für den EuGH stehen die Arbeitgeber in der Pflicht. Dürfen sie die Dokumentation der Arbeitszeit überhaupt an ihre Mitarbeiter - ob im Büro oder im Homeoffice - delegieren?

Das ist die entscheidende Frage. Die Meinungen in der arbeitsrechtlichen Literatur sind geteilt. Die Tendenz scheint dahin zu gehen, die Eigenaufzeichnungen der Arbeitnehmer für ausreichend zu halten. Auch vor dem Hintergrund, die Arbeit in einem Homeoffice, aber auch mobiles Arbeiten allgemein nicht gänzlich unzulässig zu machen. Die Alternative wäre, ein Homeoffice oder mobiles Arbeiten aufgeben zu müssen, um den Regelungen des Arbeitszeitgesetzes gerecht zu werden. In der heutigen Zeit des flexiblen und agilen Arbeitens kann dies eigentlich keiner wollen.

Reisezeiten zählen ebenfalls zur Arbeitszeit. Wie kann bei Langstreckenflügen von zwölf und mehr Stunden die Einhaltung der vorgeschriebenen Ruhezeiten sichergestellt werden?

Auch dies kann ein großes Problem werden, je nachdem, wie sich die Rechtsprechung entwickelt und ob der Gesetzgeber tätig wird. Denn das Bundesarbeitsgericht trennt zwischen vergütungspflichtiger Arbeitszeit und Arbeitszeit im Sinne des Arbeitszeitgesetzes. Wäre bei Interkontinentalflügen tatsächlich jede verbrachte Stunde Arbeitszeit im Sinne des Arbeitszeitgesetzes, müsste der Arbeitnehmer nach acht, maximal zehn Stunden die Reise unterbrechen, um seine Ruhezeit von elf Stunden einzuhalten. Die Auswirkungen auf Geschäftsreisen kann man sich ausrechnen.

© SZ vom 28.09.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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