Tyrannei der Arbeit:"Schluss mit der Ökonomisierung des Lebens"

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Immer schneller, immer mehr: Manch ein Arbeitnehmer fühlt sich wie Charlie Chaplin in dem Stummfilm-Klassiker "Moderne Zeiten" (Foto: Imago)

Abrackern fürs Unternehmen, alles geben für den Job: Der Mediziner Ulrich Renz hat sich dagegen entschieden und stattdessen ein Buch darüber geschrieben, wie die Arbeit unser Leben bestimmt. Im Gespräch erklärt er, warum Firmen-Slogans verlogen und Kollegen keine Familie sind - und wie sich die Tyrannei der Arbeit beenden lässt.

Von Sarah K. Schmidt

Es ist ein Altweibersommertag, Ulrich Renz wandert durch die Schwäbische Alb, als ihm klar wird, dass er sein Leben mit Dingen verbringt, an die er nicht glaubt. Er zückt sein Handy, ruft seinen Geschäftsführungskollegen an und wirft seinen Job als Chef eines Fachbuchverlags hin. Stattdessen widmet sich der Mediziner den Dingen, die bislang zu kurz gekommen sind. Er arbeitet als freier Publizist, schreibt Sach- und Kinderbücher. Besonders ein Thema lässt ihn nicht mehr los: die Arbeit und die Bedeutung, die wir ihr geben.Gerade ist sein Buch "Die Tyrannei der Arbeit - Wie wir die Herrschaft über unser Leben zurückgewinnen" im Ludwig-Verlag erschienen.

Süddeutsche.de: Vor einigen Wochen hat ein Fall für Aufsehen gesorgt: Ein junger Mann hat sich in einer britischen Bank buchstäblich zu Tode gearbeitet. Wird das in Zukunft öfter passieren?

Ulrich Renz: Das ist ein Einzelfall. Man muss ganz klar sagen, und das gilt zum Beispiel auch für den Tod von diesem Zürich-Manager: Wer drei Tage nicht schläft oder sich aufhängt, weil ihm berufliche Anerkennung versagt wird, der steckt in einer tiefen depressiven Sinnkrise, die nicht allein mit der Arbeit zu tun hat. Da sind offensichtlich auch andere Quellen versiegt. Aber dennoch gibt es höchst problematische Entwicklungen in unserer Arbeitswelt.

Welche Entwicklungen sind das?

Der ökonomische Druck der Globalisierung, der auf Firmen lastet, wird an die Mitarbeiter weitergegeben. Dazu kommt die technologische Entwicklung, die dazu führt, dass Arbeit Besitz von unserem gesamten Leben ergreift. Arbeit ist nicht mehr an einen Platz gebunden, sondern nur noch an ein technisches Gerät. Gleichzeitig kommt es zu einer Spaltung der Gesellschaft: Im niedrigqualifizierten Bereich des Arbeitsmarkts rackern sich die Menschen ab, prekär bezahlt, ohne jede Chance auf Aufstieg. Doch auch die gut Ausgebildeten, die einen guten Job haben, leiden unter der Tyrannei der Arbeit.

Gerade die gut ausgebildeten Berufseinsteiger stürzen sich häufig mit Feuereifer ins Arbeitsleben. Was hat das mit Tyrannei zu tun?

Es ist eine subtilere Art der Tyrannei. Am Anfang sehen viele ihre Arbeit als großes Abenteuer, das Spaß macht. Es geht nach oben bei Status, Prestige und Anerkennung. Man ist wie ein Marienkäferchen, das versucht, am Zeigefinger hochzuklettern. Aber dann kommt für viele die Zeit, wo sie merken, dass sie in dieser Mühle feststecken. Ich zumindest habe mich damals sehr fremdbestimmt gefühlt und das immer mehr als Zwang empfunden. Vielen anderen geht es genauso.

Dabei werben die meisten Unternehmen mit einer tollen Firmenphilosophie, flachen Hierarchien, motivierten Teams und der Möglichkeit zur Selbstverwirklichung.

Daraus hat sich eine Managementtechnik entwickelt, die darauf abzielt, Menschen bei ihren Emotionen zu packen, ihre Arbeit mit Sinn aufzuladen. Das hat man sich in den 1980er-Jahren von den damals aufsteigenden japanischen Firmen abgeschaut, genauso wie die Organisation in Teams. Gerade wir westlichen Individualisten sind chronisch unterversorgt mit diesem Gefühl, das eigentlich eine Selbstverständlichkeit des Lebens darstellt: irgendwo dazu zu gehören. Der Arbeitsplatz ist für uns zum Mittel geworden, uns einzubinden in die Gesellschaft, Anerkennung zu erfahren. In den 1990er-Jahren, der Zeit der New Economy, hat das zu Auswüchsen geführt, die im Rückblick fast delirant erscheinen: "Wir müssen die Mitarbeiter mit Visionen versorgen, sie mitreißen und ihnen den Weg über den Horizont hinaus weisen." Heute kommt das etwas moderater daher, aber es gelten noch dieselben Prinzipien.

Wobei sich niemand ernsthaft die Zeiten zurückwünscht, in denen Stechuhr und Akkordarbeit das Berufsleben bestimmt haben, oder?

Das Zeitalter der Disziplinierung ist vorbei. Wir sehen uns immer mehr als Individualisten, wir wollen uns im Leben selbst verwirklichen. Und diese Selbstverwirklichung suchen wir immer mehr bei der Arbeit. Es musste deshalb - fast naturgesetzlich - dazu kommen, dass das Management erkennt, wie gut diese Art der Unternehmensführung funktioniert. Menschen sind dann am produktivsten, wenn sie sich mit einer Gruppe identifizieren und im Team arbeiten. Dagegen ist auch überhaupt nichts einzuwenden.

Aber?

Die emotionale Managementtechnik ist ja nur ein Mittel zum Zweck, nämlich, mehr Gewinn zu machen. Das eigentliche Ziel dahinter wird verschleiert. Nämlich mehr Gewinn zu machen.Und deshalb steckt darin auch unheimlich viel Falschheit. Nehmen Sie diese ganzen Firmen-Slogans: "Making the world a better place" oder "The Future. Together. Now." Unter Weltrettung wird es nicht mehr gemacht. Dabei wissen wir, dass eine Firma, die Milchschnitten produziert nicht dem Heil der Menschheit verpflichtet ist, sondern dafür sorgt, dass Kinder fett werden. Oder Apple, der Meister der Emotionalisierung: "Die Mitarbeiter sind die Seele von Apple und unser größtes Kapital", heißt es da. Das ist genauso eine verlogene Floskel, wie die von der "großen Familie", als die Mitarbeiter gern bezeichnet werden. Dabei ist in einem Unternehmen das Gegenteil der Fall. Ein Familienmitglied gehört dazu, egal unter welchen Umständen. In einer Firma ist man nur zugehörig, solange man ihr von Nutzen ist.

Fitnessstudios für die Mitarbeiter, Büros, die wie eine Mischung aus Abenteuerspielplatz und Clublounge aussehen - viele Unternehmen sorgen sich doch darum, dass es ihren Mitarbeitern gut geht. Hat das keinerlei positiven Effekt?

Doch, natürlich. Aber nehmen wir zum Beispiel ein Unternehmen, das seinen Mitarbeitern Handyverbot im Feierabend erteilt und berufliche Mails nicht mehr an Privat-Accounts weiterleiten lässt. Das ist ein Ansatz, die Mitarbeiter vor ihrem eigenen Eifer zu schützen. Aber das tun die Unternehmen nicht aus Menschenliebe, sondern weil sie knallhart kalkulieren. Besser erholte Mitarbeiter sind weniger krank und arbeiten effizienter. Letztlich geht es darum, dass der Mensch besser verwertbar gemacht wird.

Sie nennen das "Ökonomisierung des Lebens" - was bedeutet das?

Wir definieren unseren Wert als Mensch über unsere Arbeit - und damit darüber, wie gut wir in der wirtschaftlichen Sphäre funktionieren. Früher war das die typisch männliche Selbstdefinition, Frauen konnten ihren Selbstwert auch über andere Rollen bekommen, zum Beispiel darüber, dass sie sich um die Kinder kümmern. Heute stürzen sich beide Geschlechter ganz auf die berufliche Identität. Alle anderen Rollen im Leben werden abgewertet. Wer seine Talente nicht dafür einsetzt, dass irgendeine Firma daraus Gewinn schlägt, der verschwendet seine Talente - so die gesellschaftliche Überzeugung, die immer weiter um sich greift. Dabei gäbe es jetzt die Chance, dass Männer und Frauen sich von dieser einseitigen Fixierung auf einen einzigen Lebensbereich frei machen.

Die sogenannte Generation Y, die jetzt in den Beruf startet, ist dafür bekannt, dass sie nicht mehr zwangsläufig auf Karriere setzt, sondern auch auf eine ausgewogene "Work-Life-Balance". Hegen Sie Hoffnung, wenn Sie diese jungen Leute betrachten?

Ich bin selbst Vater von Ypsilonern. Unser ältester Sohn ist 26. Und bei ihm und auch seinen Kumpels bemerke ich Ansätze eines neuen, gesünderen Lebensentwurfs. Die definieren für sich, welche Anforderungen ein Arbeitsplatz erfüllen muss. Bei der Generation vorher galt noch: Jeder Job ist besser als kein Job. In Zeiten des Fachkräftemangels können die Berufseinsteiger Bedingungen stellen. Wenn mein Sohn sagt, er will in einer Energiefirma anfangen, dann ist für ihn klar, dass er das nur in bestimmten Firmen macht, die zum Beispiel auf grüne Technologien setzen. Ich erlebe auch, dass die Generation Y weniger Lust hat, sich hochzuboxen in der Hierarchie.

Stellen sich die Unternehmen darauf ein? Gelingt es den heutigen Berufseinsteigern, etwas zu verändern in der Unternehmenskultur?

Ich hoffe es. Wenn Unternehmen um kompetente Mitarbeiter konkurrieren, dann muss es selbstverständlich werden, dass Anwesenheit im Unternehmen nicht länger das einzige Karrierekriterium ist. Erziehungszeit oder auch Engagement in anderen Bereichen sollten angerechnet werden. Meine Nichte hat sich eine berufliche Auszeit genommen, jetzt arbeitet sie für ein paar Monate für ein Projekt in einem Slum in Mexiko. Da erlernt sie ganz neue Fähigkeiten. Es wäre schön blöd für ein Unternehmen, das nicht anzuerkennen.

Sie glauben also daran, dass es gelingt, der Ökonomisierung der Welt einen Riegel vorzuschieben?

Die Chancen stehen gut, weil der Überdruss an der materiellen Sättigung, an der kompletten Absicherung zunimmt. In den privilegierten Gesellschaftsschichten wachsen wir Menschen in einem Biotop auf, in dem uns jeder Schritt abgenommen wird, wo wir keinen echten Herausforderungen mehr begegnen. Wir werden uns wieder der Frage zuwenden, wie wir uns jenseits von Status und materiellen Werten definieren. Dafür ist die Zeit reif. Das wird vielleicht nicht Mainstream werden, aber doch eine signifikante Gegenkultur.

Was raten Sie dem Einzelnen?

Mir hat geholfen, mich gedanklich in meine Jugend zurück zu beamen. Ich habe überlegt: "Wie bin ich ins Leben gestartet? Was wollte ich damals?" Und dann habe ich festgestellt: "Das ist doch Wahnsinn, wie ich jetzt lebe! Du warst doch mal superkreativ, du wolltest alles machen und jetzt machst du nur ein einziges Ding - und dafür opferst du dein ganzes Leben. Du verlierst den Kontakt zu deinen Liebsten, du weißt überhaupt nicht, was deine Kinder interessiert, wie ihre Kuscheltiere heißen..."

Sie haben einen Cut gemacht und Ihren Verlagsjob aufgegeben. Braucht man den Mut zu einem radikalen Schritt, um das Leben zu verändern?

Radikal bedeutet für jeden etwas anderes. Für den einen ist es radikal zu sagen, ich hör vom einen Moment zum anderen auf - wie ich das gemacht habe. Für den andern ist es radikal, zum Chef zu gehen und zu sagen: "Ich habe jetzt jeden Monat 20 Überstunden gemacht, von nun an mache ich nur noch 15." Es geht darum, für seine Wünsche einzutreten und auch, den Preis dafür zu zahlen.

Aber letztlich gewinnt man doch etwas.

Natürlich, aber Sie zahlen immer auch einen Preis - und sei es, dass der Chef einen anderen Arbeitshelden im Team viel toller findet als Sie. Es gibt tausend Gründe, das Leben nicht zu verändern. Am liebsten werden ja finanzielle Gründe vorgeschoben, aber letztlich steckt da fast immer etwas anderes dahinter. Wer sagt, er könne es sich nicht leisten, im Job kürzer zu treten, möchte vielleicht in Wahrheit nicht auf die Anerkennung im Beruf verzichten. Sie haben danach gefragt, ob es Mut braucht: Der Mut besteht darin, diesen Preis zu zahlen.

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