Tätowieren als Beruf:"Mein Vater wollte eigentlich, dass ich Jura oder Medizin studiere"

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Louisa Akissi arbeitet seit einem Jahr in einem Berliner Tattoo-Studio. (Foto: Matthias Kreienbrink)

In Tattoo-Studios gibt es weder geregelte Arbeitszeiten noch eine angemessene Ausbildungsvergütung. Drei junge Menschen berichten, warum sie trotzdem unbedingt Tätowieren wollen.

Von Matthias Kreienbrink

Wochenlang durfte Louisa Akissi ihrer Arbeit nicht nachgehen, alle Tattoo-Studios waren wegen der Corona-Gefahr geschlossen. "Ich hatte während der Zeit vor allem eine Angst: Dass ich alles vergesse, was ich bisher gelernt habe", sagt die 24-Jährige. Dabei fing ihre Ausbildung zur Tätowiererin ohnehin holperig an.

Sie war erst drei Wochen im Job, da sollte Louisa Akissi schon ihr erstes Tattoo stechen. Der Besitzer ihres Studios, das weiß sie heute, war vor allem an günstigen Arbeitskräften interessiert, nicht an künstlerischem Ausdruck. Sie weigerte sich, sie wollte sich nicht ihre Karriere mit schlechten Tattoos versauen, bevor sie überhaupt begonnen hatte. Also saß sie fortan im Hinterzimmer und tätowierte auf Schweinehaut. 1,80 Euro das Stück, aus einer benachbarten Metzgerei. Für die überzeugte Veganerin keine angenehme Aufgabe.

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In Deutschland ist inzwischen jeder fünfte Mensch tätowiert. Unter den 20- bis 29-Jährigen ist es sogar jeder zweite, so eine repräsentative Ipsos-Umfrage. Nahezu eine Verdoppelung innerhalb von sieben Jahren. Tattoos sind kein subkulturelles Phänomen mehr, sie sind eine Massenerscheinung. Derweil wird die Tattoo-Szene immer mehr zu einer Industrie. Nadel, Farben, Folien, Maschinen wollen hergestellt und verkauft werden. Alleine in Berlin gibt es mehr als tausend Tätowierer. Und immer mehr Hautärzte spezialisieren sich auf die Entfernung der Tattoos.

Tätowierer zu werden mag daher für viele eine naheliegende Idee sein. Ein Ausbildungsberuf ist das aber nicht. Es gibt keine Prüfung, kein Zeugnis. Weil Tattoo-Nadeln nur die oberste Hautschicht durchstechen, muss man - anders als etwa beim Piercen - noch nicht einmal Hygiene-Kurse absolvieren. Möchte man aber als Tätowierer bestehen, ist es wichtig, dass jedes Tattoo sauber gestochen ist. Und für die Studios ist ein sauberes Image die Geschäftsgrundlage - gerade jetzt. Denn inzwischen sind nicht nur in Berlin wieder die Tattoo-Studios geöffnet, deutschlandweit kann seit spätestens Mitte Mai wieder gestochen werden.

Hygiene ist gerade in diesen Zeiten ein wichtiges Thema

Wer Tätowierer werden möchte, muss lediglich ein Studio finden, das genug Kapazitäten hat - und Lust, jemanden auszubilden. Eigentlich reicht es schon, sich eine Tattoo-Maschine zu kaufen und loszulegen. Wer aber handwerklich gut werden möchte, der braucht einen Mentor oder eine Mentorin. Zwar gibt es kostenpflichtige Lehrgänge, die an privaten Tattoo-Schulen angeboten werden. Doch in der Szene werden die eher gering geschätzt.

Louisa Akissi hat inzwischen ein neues Studio gefunden, in dem sie lernt. Seit einem Jahr arbeitet sie im "Unter der Hand" in Berlin-Neukölln. Das Studio ist klein, zwei Räume, der erste mit einem Sofa, einem großen Empfangstisch und vielen Tattoo-Bildern an den Wänden. Im zweiten Raum wird an vier Arbeitsstationen tätowiert. Auf Schweinehaut kann sie hier nicht üben, der Raum ist zu begrenzt, der Geruch zu streng. "Wir lassen gerade nicht mehr als drei Personen gleichzeitig in den Shop", sagt Akissi. Und sowohl die Tätowierer als auch die Kunden tragen während der gesamten Session einen Mundschutz. Auf dem Tresen ein Aushang mit Verhaltensregeln während der Corona-Zeit. "Falls möglich nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln kommen", steht da etwa.

"Mein Vater wollte eigentlich, dass ich Jura oder Medizin studiere", erzählt Louisa Akissi. Leisten kann sie sich diese Ausbildung nur, weil sie noch bei ihren Eltern wohnt und am Wochenende als Tellerwäscherin arbeitet. Wer Tätowierer wird, befindet sich weder in einer geregelten Ausbildung noch in einem Angestelltenverhältnis - daher verdienen die Azubis auch nichts. Sie lernen im Studio, worauf sie bei der Hygiene achten müssen, wie die Tattoo-Maschine zu führen ist, wie man mit Kunden spricht oder den Papierkram erledigt. Die ersten Tattoos stechen die Neulinge oft für sehr geringe Preise, meist nicht mehr als 30 Euro. Kunden werden deutlich darauf hingewiesen, dass es zu fehlerhaften Arbeiten kommen kann. Einige Anfänger lassen sich auch unterschreiben, dass kein Schadenersatz möglich ist.

Die Tattoo-Motive entwickeln die angehenden Tätowierer in ihrer Freizeit. Jeder arbeitet daran, einen eigenen Stil zu entwickeln. (Foto: Matthias Kreienbrink)

Studios sind in der Regel ein Zusammenschluss mehrerer Freiberufler. Etablierte Tätowierer nehmen oft Stundenpreise von 100 bis 150 Euro oder Tagessätze, die bei 500 Euro beginnen. Das sind Menschen, die schon jahrelang im Beruf sind und sich einen Ruf erarbeitet haben.

"Ich dachte, dass ich vor meinem ersten Tattoo auf einem Kunden tausend Tode sterben würde", sagt Akissi. Es war im vergangenen Oktober - und die Kundin ihre Schwester. "Als es dann losging, war ich überraschend ruhig. Ich liebe das Gefühl der Maschine in der Hand, die Vibration." Ihrer Schwester tätowierte sie eine japanische Schwalbe über den Fußknöchel.

"In mehr als 70 Studios bin ich vorstellig geworden"

Das erste halbe Jahr ihrer Ausbildung bestand daraus, die Maschinen der anderen Tätowierer aufzubauen, zu reinigen, die Stationen zu pflegen. "Ich habe auch Hausaufgaben bekommen. Musste mir etwa fünf Designs zum Thema Pech und Glück oder Berlin ausdenken", erzählt Akissi. Und so saß sie nach Feierabend in ihrer Wohnung und entwarf Motive.

Das Tattoo-Gewerbe habe sie schon mit 14 Jahren fasziniert. Als Kind habe sie viel gezeichnet, etwa die Charaktere ihrer Lieblingsserie "Supernatural". Doch lange Zeit habe sie gedacht, dass ihre Zeichnungen nicht gut genug seien. "Bis ich anfing zu üben und immer besser wurde", sagt sie.

Inzwischen hat Akissi im Schnitt zwei Kunden die Woche. Sie verdient noch immer nichts. "Ich lasse mir nur die Materialkosten bezahlen", sagt sie. Möglichst viele Erfahrungen wolle sie sammeln, ihren eigenen Stil verfeinern. "Ich denke, dass ich in etwa zwei Jahren mit der Ausbildung fertig sein werde", sagt sie. Einen wirklichen Plan gebe es jedoch nicht - ihre Mentorin wird entscheiden, wann es soweit ist. Ganz im Stil einer unanfechtbaren Meisterin.

Pascale Conrad steht um sechs Uhr morgens auf. Zuerst geht sie einkaufen, denn sie wird wieder das Mittagessen für die Kollegen vorbereiten. Um acht Uhr betritt sie das riesige Gebäude in Berlin Weißensee. Das Studio "Der Grimm" ist im Motorwerk untergebracht, einem Fabrikgebäude, in dem vor hundert Jahren noch Motoren hergestellt wurden. "Die ersten vier Stunden des Tages verbringe ich damit, das Studio zu putzen", sagt die 20-Jährige. Danach kocht sie. "Es geht gemeinschaftlich bei uns zu, wir essen immer um 15 Uhr zusammen an einem großen Tisch."

Die restliche Zeit verbringt sie damit, den Tätowierern über die Schulter zu schauen. Einmal in der Woche erhält sie eine Aufgabe. "Wir simulieren ein Kundengespräch, ich muss erfragen, was diese fiktive Person will und wie ich das umsetzen könnte", sagt sie. Dann hat sie eine Woche Zeit, ein Motiv zu erstellen. Selbst tätowieren wird Conrad erst in ein paar Wochen. Sie hat schon Kunden: einige ihrer Freunde. Im Studio lernt sie, ihren Social-Media-Auftritt zu verbessern. Denn die meisten Kunden finden Tätowierer über Instagram. So hat auch Conrad die Studios gefunden, in denen sie gerne arbeiten wollte.

"Ich habe schon mit 17 Jahren angefangen, mich umzuschauen", sagt sie. Eine Mappe mit ihren Zeichnungen erstellt, viele unterschiedliche Stile. "In mehr als 70 Studios bin ich vorstellig geworden, aber überall hieß es, dass sie keine Azubis nehmen oder schon jemanden haben." Conrad stammt aus Mücheln, einer kleinen Stadt in Sachsen-Anhalt. Durch Zufall kam sie zu "Der Grimm", für eine Woche sollte sie an der Rezeption aushelfen. "Am zweiten Tag hatte ich ein Gespräch mit dem Besitzer, und er hat mich gefragt, ob ich nicht eine Ausbildung machen möchte", sagt sie.

Akissi und Conrad können nicht vom Tattoo-Stechen leben. Beide sind auf ihre Eltern oder Nebenjobs angewiesen, verrichten teils anstrengende Arbeit. Doch beide sagen, dass es sich für sie lohnt - denn sie wollen unbedingt Tätowierer werden. Sprechen davon, dass sie ihre Kunst verwirklichen wollen, ihr eigener Boss sein und das Leben anderer Menschen verändern, die sich dafür entscheiden, sich von ihnen stechen zu lassen. Conrad hat etliche Tattoo-Bücher in ihrer Wohnung, in denen sie immer wieder blättert. "Es ist wichtig, seinen eigenen Stil zu finden", sagt sie. Daher sucht sie überall Inspiration, auch schon, bevor sie überhaupt zum ersten Mal jemanden tätowiert.

Noch nimmt Franz Schubert kein Geld für die Tattoos, die er sticht. „Ich sage allen Kunden sehr deutlich, dass ich noch übe." (Foto: Matthias Kreienbrink)

Franz Schubert hat diesen Schritt schon getan. Doch er hat nie in einem Studio gelernt. "Einem Freund habe ich schon 20 Tattoos verpasst", sagt der 28-Jährige. Mit seiner Freundin zusammen wohnt er in der Nähe des Kitkat Clubs in Berlin. Von hier aus tätowiert er drei Mal die Woche Freunde und Freunde von Freunden. "Inzwischen hat sich das so rumgesprochen, dass auch fremde Leute anfragen", sagt er. Vor einem Jahr hat Schubert angefangen, er hat sich eine Tattoo-Maschine, eine Liege, Nadeln, Farbe gekauft, das meiste gebraucht. "Mein erstes Tattoo war auf einem guten Freund, ein Totenkopf hinter einem Palmenzweig." Viel Spaß hätten sie dabei gehabt - auch wenn die Striche etwas wackelig wurden.

Schubert würde gerne eine Ausbildung zum Tätowierer machen, kann sie sich aber nicht leisten. "Ich bin noch eingeschriebener Student, arbeite in einem Schulbuchverlag." Für seine Tattoos nimmt er kein Geld, lässt sich nur die Kosten für Tinte, Nadeln und Hygiene zahlen. "Ich sage allen Kunden sehr deutlich, dass ich das nicht professionell mache, sondern noch übe", erklärt er. Darum habe es bisher noch keine Beschwerden gegeben.

Franz Schubert ist noch als Student eingeschrieben und arbeitet in einem Schulbuchverlag. Er tätowiert auf einer Liege im Wohnzimmer. (Foto: Matthias Kreienbrink)

Die Hygiene-Routine habe er sich abgeschaut, als er selbst tätowiert wurde, auf dem Bauch etwa, auf dem er einen Wolf trägt. "Für das Tattoo habe ich eine Woche auf einer Diabetikermesse als Aushilfe gearbeitet, sonst hätte ich mir das nicht leisten können." Er sagt, dass die meisten Menschen zu ihm finden, weil sie sich sonst kein Tattoo leisten könnten. "Die haben dann auch nicht den Anspruch, dass das Endprodukt total sauber ist."

Schubert hofft, irgendwann genug Erfahrung zu haben, um als Tätowierer arbeiten zu können, doch noch fühle er sich nicht sicher genug, um in einem Studio vorstellig zu werden. Also tätowiert er erst mal weiter in seiner Wohnung, freut sich über jeden Menschen, der zu ihm kommt. Sein eigenes erstes Tattoo hat er sich auf der Brust machen lassen. "Heart Means Everything" steht da. Gestochen wurde es nicht in einem Studio, sondern bei einem Freund auf der Wohnzimmercouch.

© SZ vom 27.06.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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