Gesichtstattoos:Wie der Vokuhila im Hardrock der Achtziger

Gesichtstattoos: Ein umfassend tätowierter junger Geschäftsmann.

Ein umfassend tätowierter junger Geschäftsmann.

(Foto: mauritius images)

Gesichtstattoos galten selbst unter Tätowierten lange als Tabu. Inzwischen aber tauchen sie überall in sozialen Medien auf. Warum?

Von Jan Stremmel

Für das Gesichtstattoo fing das Jahr schlecht an. Am 1. Januar vermeldeten die Promiportale im Netz: Justin Bieber hat jetzt auch eines! Über der rechten Augenbraue trägt Bieber das Wort "Grace", gestochen in einer Pärchen-Session mit seiner Ehefrau Hailey Baldwin. Damit war klar: Der Mainstream hatte eine weitere Bastion des Untergrunds geschleift. Was die Kulturtechnik des Tätowierens angeht, vielleicht sogar die letzte.

Das Gesicht galt bislang selbst unter den Millionen großflächig Tätowierten unserer Zeit als unantastbar. Obwohl der Hautschmuck seit den Neunzigerjahren völlig in den Kanon der Bürgerlichkeit eingewachsen ist und nahezu jedes Schockpotenzial verloren hat, ließen nur wenige Menschen die Nadeln an Gesichtshaut. Grimmige Typen wie Mike Tyson (mit Tribal ums linke Auge), Schwerkriminelle wie Charles Manson (Hakenkreuz zwischen den Augen) oder der Türsteher des Berghain, dessen Stacheldraht-Studie auf der linken Gesichtshälfte keinen unbedeutenden Teil zum weltweiten Mythos des Clubs beigetragen hat.

Nun aber ist das Face-Tattoo in bestimmten Kreisen der Popkultur zum Standard geworden. Unter Künstlern des sogenannten Soundcloud-Rap, einer relativ neuen Spielart des Hip-Hop, ist es allgegenwärtig. Die Protagonisten dieser unter Jugendlichen extrem beliebten Musikrichtung heißen zum Beispiel Post Malone, Lil Peep, Lil Pump, Lil Xan oder Lil Uzi Vert.

Nicht nur die Namen sind ähnlich, auch die Erfolgsgeschichten: Ihren Ruhm haben die sehr jungen Rapper rustikal selbstproduzierten, über Soundcloud verbreiteten Songs zu verdanken, thematisch beschränken sie sich weitgehend auf die Themenbereiche Sex, Suizidgedanken und verschreibungspflichtige Drogen. Aber auch das optische Vokabular der Soundcloud-Rapper ist deckungsgleich: jeder der Genannten trägt Tattoos im Gesicht.

War es also bis vor wenigen Jahren noch ein Zeichen des Außenseitertums, ist das Gesichtstattoo unter diesen jungen Künstlern wie der Vokuhila im Hardrock der Achtziger: Nur wer keines hat, fällt auf.

Die Debatte über den Trend wird in den USA schon etwas breiter geführt. Es sei heute "definitiv weiter im Mainstream", zitiert der Rolling Stone die Tätowiererin Dow Hokoana. Sie hat viele der Tattoos von Lil Wayne gestochen, der sich vor gut zehn Jahren als einer der Ersten Tränen, Buchstaben und Sternchen ins Gesicht ritzen ließ. Sowohl damit als auch mit seinem Namen gilt er als stilbildend für die Soundcloud-Rapper. Der Star-Tätowierer Bang Bang aus New York, zu dessen Kunden Justin Bieber zählt, nennt vor allem die "Aufmerksamkeit" als Pluspunkt der Gesichtsmarkierung: "Markenstrategisch gesprochen, sollte man sich wohl sein Gesicht tätowieren lassen."

Von einer Massenbewegung ist die Sache trotzdem noch weit entfernt. Laut einer Umfrage von Statista ist zwar bereits jeder vierte Deutsche tätowiert - bei Frauen zwischen Mitte 20 und Mitte 30 ist es sogar jede zweite, schätzt eine Studie der Uni Leipzig. Aber die beliebtesten Hautregionen sind bei Männern die Oberarme, bei Frauen die Fußknöchel. Kein Wunder: Beide sind leicht zu überdecken. Nicht ohne Grund firmieren Bilder auf Händen und Hals unter amerikanischen Tätowierern auch als "job stoppers".

Genau darum geht es. Ist ein tätowierter Handrücken ein Stoppschild für den Karrierepfad, ist das Gesichtstattoo sozusagen die ultimative Straßensperre. Nicht mal Handschuhe oder ein Schal können verdecken, was sich etwa Post Malone, einer der erfolgreichsten Soundcloud-Rapper, ins Gesicht geritzt hat: "Always Tired" auf den Tränensäcken, "Stay Away" über der rechten Braue. Dazu ein Schwert entlang der Schläfe und Stacheldraht quer über der Stirn. Nicht dass Post Malone es mit einem Nummer-eins-Album und in diesem Jahr vier Grammy-Nominierungen irgendwann noch nötig hätte, aber mit diesem Antlitz wäre er in der freien Wirtschaft wohl schwer vermittelbar.

Seine Beweggründe erklärte Malone jüngst einem Reporter mit sechs Worten: "Anything to piss off my mom". Dieses Ziel, das Schocken von Mutti, hätte er vor 20 Jahren wohl noch mit einem ordinären Oberarmtattoo erreicht. Nur reicht das in der Distinktionsspirale längst nicht mehr. Um sich von den Millionen mittlerweile ebenfalls volltätowierten braven Bürgern abzusetzen, braucht es im Jahr 2019 schon mindestens ein Schwert im Gesicht.

Sofortige Wiedererkennbarkeit im Strom der Selfies

Eines ist dieser Wettlauf um Distinktion eher nicht: nachhaltig. Denn mit der Erschließung des Gesichts ist die Tätowierung als Kunstform im Prinzip auserzählt. Weshalb die Nachricht vom Bieber-Tattoo eben ein gewisses Drama in sich trägt: Wer künftig seine Mutter schockieren will, wird über ganz neue Arten der Selbstverstümmelung nachdenken müssen.

Abgesehen davon ist die neue Beliebtheit permanent bemalter Gesichter auch eine Folge davon, wie heute Bilder konsumiert werden und wie Stars entstehen. Sie wäre ohne Social Media undenkbar. Dank Instagram, Youtube oder Soundcloud ist der Weg zu grenzenloser Berühmtheit heute so nah wie nie zuvor. Um allerdings quer über die Plattformen bekannt zu werden, braucht es vor allem eines: sofortige Wiedererkennbarkeit im Strom der Selfies. Die Funktionslogik von sozialen Medien hat einen Fokus auf das Gesicht gerichtet. Influencer wissen, die Likes für ein Bild schnellen nach oben, sobald das eigene Gesicht groß darauf zu sehen ist. Die Mode- und Kosmetikbranche reagiert auf die Gesichtsfixierung mit einer "neuen Oberkörperoffensive", wie die SZ an dieser Stelle schon vor gut einem Jahr analysierte: auffällige Ohrringe, Wimpern-Extensions und Markenlogos am Kragen.

21 Savage, Post Malone

Der vergleichsweise dezent geschmückte Rapper 21 Savage.

(Foto: Evan Agostini/AP)

Die Stirn- oder Wangentätowierung ist letztlich Teil desselben Trends, übersetzt in die Skandalästhetik des Rock 'n' Roll. Das Gesicht, schrieb kürzlich das Online-Magazin Vox in einem großen Essay, sei im Grunde nur eine "günstige Werbefläche für Karrieren, die noch gar nicht begonnen haben".

Nicht nur Ausweis einer radikalen und irreversiblen Abwendung vom bürgerlichen Erwerbsleben

Interessant ist dabei, was jenseits der Popstar-Kaste von normalen Bürgern als Begründung für solche Modifizierungen hervorgebracht wird, die ja doch permanenter sind als eine Wimpernverlängerung. Ein kalifornischer Kreativdirektor, den die New York Times nach der Motivation für seine Tätowierung befragte, schwärmt etwa davon, jetzt endlich keine andere Jobmöglichkeit mehr zu haben: "Es dient mir als Stempel: Ich glaube an mich selbst."

Genauso formuliert es der junge Rapper mit dem Künstlernamen Lil Uzi Vert - er ist einer derjenigen, die im Fahrwasser von Post Malone ebenfalls mit hoch dotiertem Plattenvertrag von Soundcloud weggekauft wurden, sicher nicht zuletzt, weil er sich dank großflächiger Gesichtstätowierung als gut vermarktbarer Teil einer neuen Jugendkultur ausweist. Er habe sich mit 17 das Wort "Faith" auf die Stirn tätowieren lassen, nachdem er seinen ersten Job nach vier Tagen geschmissen habe. Seither müsse er sich "auf das fokussieren, was ich wirklich machen will". Denn in ein Büro könne er jetzt nicht mehr gehen, "mit dem Scheiß im Gesicht".

So gesehen ist das Gesichtstattoo nicht nur Ausweis einer radikalen und irreversiblen Abwendung vom bürgerlichen Erwerbsleben, und auch nicht nur eine Reaktion auf die Ausbreitung von harmlosen Tattoos in der Mittelschicht. Manchmal ist es auch ein simpler und im Grunde zutiefst bürgerlicher To-do-Zettel.

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