Reinhard Winter ist Diplompädagoge und in der Leitung des Sozialwissenschaftlichen Instituts Tübingen. Seit mehr als zwanzig Jahren arbeitet er in der Jungen- und Männerberatung, zuletzt veröffentlichte er das Buch Jungen - Eine Gebrauchsanweisung. Im Interview erklärt er, warum Jungen sich in der Schule manchmal schwerer tun als Mädchen und welche Fehler Lehrer vermeiden sollten.
sueddeutsche.de: Herr Winter, um Mädchen besser zu fördern, gibt es reine Mädchenklassen und Mädchen-Studiengänge. Wäre das auch für Jungen sinnvoll?
Reinhard Winter: Phasenweise ja. Gerade zwischen der 3. und 8. Klasse leiden Jungen darunter, dass alles im Zwang zur Koedukation geschieht. Mädchen sind in dieser Zeit mental und körperlich weiter, tun sich im Unterricht oft leichter. Für manche Jungen kann das Dauerstress bedeuten. Eine Geschlechtertrennung im Unterricht wäre für die Jungen in dieser Zeit eine Entlastung. Vor allem im Sprachunterricht, wo Mädchen besonders häufig die bessere Leistung erbringen. Spätestens ab der 10. Klasse ist das kein Problem mehr.
sueddeutsche.de: Warum fällt es Jungen oft schwerer als Mädchen, sich im Unterricht zu konzentrieren?
Winter: Manchmal sind es für Jungen langweilige Inhalte und Methoden. Aber auch das Testosteron trägt zum Unterschied bei. Jungen sind keine Testosteronbomben, aber das Hormon hat Auswirkungen. Es bewirkt, dass Jungen tendenziell mehr in Bewegung sein wollen. Außerdem ist Statusdenken für sie wichtiger als für Mädchen. Jungen treibt stärker die Frage um, welche Position sie im sozialen Gefüge haben. Bin ich drin oder draußen? Kann ich meine Stellung halten? Diese Statusfragen klären manche gerne auch auf körperlicher Ebene.
sueddeutsche.de: Viele Eltern und Lehrer sind entsetzt, wenn sich Jungen auf dem Pausenhof prügeln.
Winter: Solche Positionskämpfe sind in einem gewissen Rahmen ganz normal. Sie tragen bei manchen Jungen zur Beziehungsklärung bei, sind also eine Form der Kommunikation untereinander. Das Problem ist, dass Jungen, die diese körperliche Auseinandersetzung suchen, in der Schule von Lehrern und Mitschülern ausgegrenzt werden. Dabei sind solche Konflikte bis zum Ende der Grundschule völlig normal. Danach sollte sich das allerdings wieder ändern und die körperliche Energie eher auf dem Sportplatz ausgelebt werden.
sueddeutsche.de: Ist es ein Problem, dass in der Grundschule fast nur Frauen unterrichten?
Winter: Es kann ein Problem sein. Aber nur eines von vielen. Die Lebenssituation von Jungen wird sich nicht ändern, wenn ein paar Männer mehr vor ihnen stehen. Es gibt ja auch Jungen, die männliche Erzieher oder Grundschullehrer hatten. Die sind auch nicht groß anders. Jungen sollten in der Schule einfach die Vielfalt von Lebensrealitäten sehen. Da gehören Männer dazu. Aber es wäre genauso wichtig, mehr Lehrer mit Migrationshintergrund zu haben.
sueddeutsche.de: Brauchen Jungen eine Sonderbehandlung?
Winter: In gewisser Weise ja, weil es in ihrer Entwicklung ein paar Besonderheiten gibt. So verläuft beispielsweise psychologisch gesehen die Ablösung von der Mutter im Alter von drei bis fünf Jahren bei Jungen ambivalenter als bei Mädchen. Mädchen wenden sich dabei ihrem ersten gegengeschlechtlichen Liebesobjekt zu: Das ist der Vater. Jungen wollen sich ebenfalls von der Mutter abnabeln und wenden sich ihrem ersten gegengeschlechtlichen Liebesobjekt zu: Das ist aber wieder die Mutter. Das ist manchmal schwierig und erklärt auch, dass Jungen ihrer Mutter gegenüber manchmal sehr anschmiegsam sind und im nächsten Moment wieder garstig. Manche Mütter treibt das zur Verzweiflung. Aber das heißt nicht, dass alle Jungen verhaltensgestört sind, sondern das ist ein Thema, das sie bewältigen wollen.
sueddeutsche.de: Rühren manche Schwierigkeiten in der Schule auch daher?
Winter: Ja, zumindest bei manchen Jungen. Einfühlende Beziehungen stehen bei vielen Jungen nicht so im Vordergrund, sie haben manchmal ihre Schwierigkeiten damit, können sich nicht so gut in ihr Gegenüber hineinversetzen. Das betrifft auch Lehrer und Mitschüler - und kann Konflikte geben.
sueddeutsche.de: Immer öfter mahnen Pädagogen an, dass Jungen in unserer Gesellschaft auf der Strecke bleiben. Ist es heute schwieriger als früher, Junge zu sein?
Winter: Einerseits ist es einfacher, weil sich die einengenden Männlichkeitsbilder auflösen. Das ermöglicht Jungen und Männern, mehr so zu sein, wie sie als Person wirklich sind. Sie müssen nicht mehr einem festgeschriebenem Ideal entsprechen. Mein Sohn hat ein Praktikum in einem Kindergarten gemacht, und es hat ihn deshalb niemand dumm angeredet. Daran werden Fortschritte erkennbar, das macht es Jungen einfacher. Gleichzeitig wächst aber der Druck.
sueddeutsche.de: Welcher Druck?
Winter: Es entsteht Leistungsdruck - besonders für Jungen. Mädchen können damit oft besser umgehen. Sie haben ein Lebensmodell mit mehreren Phasen. Wenn sie Kinder möchten und bekommen, können sie für einige Zeit aus dem Beruf aussteigen. Jungen haben nur eine Option: Ausbildung - Beruf - Arbeit. Deshalb erleben sie den Berufsdruck stärker.
sueddeutsche.de: Widerspricht das nicht dem Anspruch der Gleichberechtigung?
Winter: Noch immer herrscht bei Männern das Bild vor, irgendwann Ernährer der Familie zu sein. Und sie spüren, dass die meisten Frauen auch so denken. Dieser Druck ist also noch immer da, obwohl die starre Rollenaufteilung langsam bröckelt. Theoretisch können auch Männer für ein paar Jahre aus ihrem Job aussteigen und sich um die Kinder kümmern. In der Lebensrealität von Jungen ist diese Erlaubnis aber noch längst nicht angekommen.
sueddeutsche.de: Was können Lehrer tun, um Jungen gerecht zu werden?
Winter: Lehrer könnten mehr auf die Bedeutung von Statusthemen für Jungen eingehen. Viele Lehrer haben Schwierigkeiten, so rüberzukommen, dass sie von Jungen als Chef akzeptiert werden. Mädchen tun sich da leichter, weil sie sich eher in die Lehrer hineinversetzen. Wenn Statusfragen für Jungen wichtig sind, sollten Lehrerinnen oder Lehrer das einfach ernst nehmen. Es ist ja eine Form der Beziehung. Verständnis für das Bewegungsbedürfnis von kleineren Jungen kann ebenfalls weiterhelfen. In der Grundschule bieten sich zum Beispiel Energieübungen an. Es gibt gute Erfahrungen beim Zählen, das mit Stampfen unterstützt wird. Oder wenn es zu laut wird: Dann nehmen die Schüler ihr Namensschild zwischen zwei Finger und balancieren es leise um den Tisch. Auch so was hilft oft.