Heather Norris war zwei Jahre alt und manchmal außer sich vor Wut. Wie es ihr heute wohl geht? Ihr Pech war, dass die Harvard-Psychiater Joseph Biederman und Janet Woozniak Anfang der 90er Jahre die Idee hatten, dass sich hinter kindlichen Aufmerksamkeitsstörungen und Hyperaktivität eine bipolare Störung verbergen könnte. Das ist eine Krankheit, die sich durch den Wechsel manischer und depressiver Phasen auszeichnet und zuvor fast ausschließlich bei Erwachsenen festgestellt wurde. Doch die Idee von Biederman und Woozniak verbreitete sich in der wissenschaftlichen Gemeinde rasch, unterstützt von der Pharmaindustrie. Bei immer mehr Kindern wurde eine bipolare Störung diagnostiziert; so auch bei Heather, die eine der jüngsten Psychiatrie-Patienten der Geschichte sein dürfte. Die meisten von ihnen bekamen daraufhin Antipsychotika verschrieben, die massive Nebenwirkungen und ungewisse Langzeiteffekte auf das sich entwickelnde Gehirn haben.
Möglich wurde diese Epidemie überhaupt nur, weil 1980 in dem psychiatrischen Diagnosekatalog DSM ( Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) zum ersten Mal die bipolaren Störungen als Diagnose aufgenommen wurden. Das Beispiel zeigt, welche Macht dieses Buch hat, das gerne als Bibel der Psychiater bezeichnet wird, aber dennoch unterschätzt wird. Schließlich werden die zehn Gebote weitgehend ignoriert, ohne dass das unbedingt irdische Folgen hat. Außerdem wird die Bibel nicht alle 15 Jahre in einer revidierten Version aufgelegt.
Anders verhält es sich mit dem DSM-Regelwerk, das seit 1952 von der American Psychiatric Association (APA) herausgegeben wird und dessen aktuelle, vierte Version DSM-IV in der deutschen Fassung mehr als 1000 Seiten hat. Es setzt - neben dem eher praxisorientierten Konkurrenzwerk ICD-10 der WHO - weltweit die Kriterien dafür, wann ein Mensch für psychisch gestört zu erklären ist.
"Alles, was man in dieses Buch aufnimmt, jede kleine Änderung, die man macht, hat große Folgen", sagt Michael First von der Columbia University, einer der Autoren von DSM-IV. Sätze in diesem Buch entscheiden, ob die Krankenkasse eine Therapie zahlt, ob Straftäter ins Gefängnis oder in die Psychiatrie wandern, ob ein bestimmtes Sexualverhalten toleriert wird, welche Projekte an den Universitäten Drittmittel erhalten, wohin die Pharmaindustrie ihre Forschungsmilliarden lenkt und ihr Marketing. Nicht zuletzt beeinflusst der Katalog die Diskussion über die große, aber nicht wirklich gelöste Frage: Was überhaupt ist eine psychische Krankheit?
So verwundert es nicht, dass derzeit vor allem in den USA heftige Diskussionen um die anstehende, fünfte Fassung des DSM geführt werden, die im Mai 2013 erscheinen soll und dessen endgültiger Entwurf vor kurzem vorgestellt wurde. Schließlich galten auch frühere Ausgaben als Wendemarken der Psychiatriegeschichte: Es trug zur gesellschaftlichen Akzeptanz der Schwulen bei, dass die APA 1973 beschloss, Homosexualität im DSM zu streichen. Noch wichtiger war der Paradigmenwechsel, der 1980 mit DSM-III vollzogen wurde. Damals löste man sich bei den Krankheitsdiagnosen von allen Spekulationen über Ursachen, verzichtete auf theoretische Hintergründe und etablierte ein simples Checklisten-System: Freudlos seit mehr als zwei Wochen? Deutlicher Gewichtsverlust ohne Diät? Schlaflosigkeit? Psychomotorische Unruhe? Suizidideen? Na dann: Major Depression, DSM-Kennziffer 296.2x.
Dieser sachliche, rein symptomorientierte Zugang zum Psychischen war ein Befreiungsschlag, ein Fortschritt gegenüber den Orakeltechniken der damals noch dominierenden Psychoanalytiker, die mit wolkigen Begriffen jonglierten und in den Biographien ihrer Klienten stocherten. Zugleich ermöglichte die klare Diagnostik überhaupt erst eine empirisch-vergleichende psychiatrische Forschung, weil sie sicherstellte, dass Mediziner und Therapeuten ungefähr das gleiche meinten, wenn sie "Depression" sagten oder "Schizophrenie". So ist es wohl zu erklären, dass das Manual ein millionenfach verkaufter Bestseller in mehr als 20 Sprachen wurde. An diesem grundlegend neuen Konzept änderte sich auch mit DSM-IV wenig, der vierten Ausgabe des Manuals, die 1994 erschien und zuletzt 2000 leicht revidiert wurde.
Der Erfolg des Werkes verdeckte jedoch seine methodischen Schwächen. So schön die klar abgegrenzten Diagnosen im DSM-IV für Sammler und Systematiker auch sind, in der Realität gibt es sie selten in Reinform; fast immer überlappen sie sich: Angstpatienten leiden häufig auch unter Depressionen, und Depressive sind meist auch ängstlich, ebenso die Schizophrenen. Wieso muss sich der Arzt für eine Hauptdiagnose entscheiden? Umgekehrt deutet die moderne genetische Forschung darauf hin, dass vermeintlich verschiedene Diagnosen gemeinsam vererbt werden.
Die bequeme Ankreuz-Diagnose nach dem Mehrheitsprinzip begünstigt Fehlwahrnehmungen. Sie kann dazu führen, dass Patienten, die nur ein Symptom gemein haben ("schläft schlecht") die gleiche Diagnose ("Depression") bekommen - obwohl ihre Krankheitsbilder sich stark unterscheiden.
Das Ja-Nein-Prinzip beim Ankreuzen widerspricht zudem der Einsicht, dass die meisten psychischen Krankheiten auf einem Kontinuum zwischen normalem und pathologischem Erleben und Verhalten zu verorten sind. Ein bisschen Beinbruch gibt es eben nicht, ein bisschen Depression oder Wahn aber schon.
Wirklich entlarvend für den Reifegrad der Psychiatrie aber ist die Tatsache, dass sich manche im DSM-IV aufgeführten Krankheiten in der klinischen Praxis gar nicht finden - oder einfach irrelevant sind. Von den elf Persönlichkeitsstörungen im DSM werden nur zwei regelmäßig diagnostiziert: die Borderline- und die antisoziale Persönlichkeitsstörung. Welch eine Kränkung für Narzissten: Gemäß dem neuesten Stand der Forschung gibt es sie in ihrer Reinform gar nicht! Dabei sind sich die Psychiater sicher, dass Persönlichkeitsstörungen weit verbreitet sind, nur folgen sie nicht den vom DSM definierten Grenzen.
Aus gutem Grund also beraten bereits seit 1999 insgesamt 500 von der APA bestellte Experten in verschiedenen Arbeitsgruppen über die Revision des DSM. Ende Mai stellte die APA die Endfassung ins Internet, bis 15. Juli sind noch Kommentare erwünscht. Dann folgen Tests im Feld.
Auf den ersten Blick scheinen die vorgeschlagenen Änderungen nicht logisch: So wurden einige Diagnosen entsprechend der aktuellen Studienlage neu gebündelt; die Zwangskrankheiten etwa stellen jetzt eine eigene Gruppe dar, Störungen aus dem schizophrenen Formenkreis wurden zusammengelegt. Die Zahl der Persönlichkeitsstörungen soll halbiert werden; abgeschafft werden unter anderem die paranoide, histrionische und eben die narzisstische Persönlichkeitsstörung. Vor allem aber soll in Zukunft bei allen psychischen Krankheiten ein sogenannter dimensionaler Ansatz gelten: Der diagnostizierende Arzt soll bei jeder Störung angeben, wie stark diese ausgeprägt ist. Dabei soll er nicht nur das Hauptsymptom beachten, sondern auch die typischen Begleitsymptome der meisten psychischen Krankheiten erfassen - Angst oder Depression oder auch kognitive Störungen. Aus dieser Logik folgt auch, dass etwa die derzeitigen Diagnosen Autismus und Asperger-Syndrom nicht mehr als eigene Diagnosen gesehen werden sollen, sondern als verschieden starke Ausprägungen eines Kontinuums von milden bis schweren Entwicklungsstörungen.
"Es ist wichtig, dass man auf diese Weise domänenspezifisch diagnostiziert und Nebensymptome beachtet", sagt der Göttinger Psychiater Peter Falkai, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde. Heute wisse man, dass Schizophrene eher unter ihren Depressionen leiden als dem Wahn. Obwohl bekannt sei, dass sich aus ihren kognitiven Defiziten Voraussagen über den Verlauf der Krankheit ableiten lassen, spielen sie derzeit in der Klassifikation keine Rolle.
Der wirkliche Streit bei DSM-5 geht um den hartnäckigen Generalverdacht gegenüber der Psychiatrie: dass sie Krankheiten erfindet und Menschen fahrlässig pathologisiert. Seitdem ausgerechnet Allen Frances, der frühere Chef-Organisator von DSM-IV und mittlerweile emeritierter Psychiater der Duke University in einem Beitrag für das Branchenblatt Psychiatric Times eine Kampagne gegen die Neufassung startete, schwappt das Thema auch in die Medien. Frances wendet sich vor allem dagegen, dass auch neue Krankheiten in den Katalog aufgenommen werden sollen, etwa das sogenannte Binge Eating, Fressattacken, bei denen hinterher aber - anders als bei der Bulimie - nicht erbrochen wird. Oder die tiefe, vermutlich pathologische Trauer um verstorbene Menschen, die bislang ausdrücklich aus dem DSM herausgehalten wurde. In Zukunft soll sie als eigenständiges Gemütsleiden aufgeführt werden.
Unklar ist noch, was langfristig mit einer Störung werden soll, die sich "Hypersexual Disorder" nennt: Die Betroffenen leiden laut DSM-5-Entwurf seit mindestens sechs Monaten darunter, dass sie übermäßig viel Zeit mit sexuellen Phantasien und Handlungen verbringen. Diese Indikation soll gemeinsam mit der Internet-Sucht im Anhang des Katalogs stehen, einer Art diagnostischer Wartebank.
Solche Neuerungen, warnt Frances, würden zu neuen "falschen Epidemien" führen. Hingegen beteuern die DSM-5-Autoren, dass sie mit mancher Neuerung genau das Gegenteil bewirken wollen. So soll etwa die Einführung einer "Temper Dysregulation Disorder" (etwa: Stimmungs-Regulierungs-Störung) eben jener bipolaren Epidemie entgegenwirken, die derzeit angeblich unter den US-Kindern wütet.
Zu einfach machen es sich jene Kritiker, die eine möglichst geringe Zahl an psychiatrischen Diagnosen für optimal halten. "Es gibt natürlich Übertreibungen, aber auch Untertreibungen", warnt Mathias Berger von der Uniklinik Freiburg. Manche neue Diagnose sei nur eine Differenzierung. Und lange Zeit hätten die Psychiater schlicht vergessen, sich bei Erwachsenen Krankheiten anzuschauen, die sie bei Kindern und Jugendlichen regelmäßig behandelten: Wie konnte man eigentlich erwarten, dass ein Kind mit Asperger oder ADHS bei Erreichen der Volljährigkeit seine Störung einfach ablegt? Er erinnert sich, dass in den 80er Jahren noch kaum jemand die Bulimie kannte.
Wie schwierig das Urteil über die Aufnahme einer Diagnose ist, zeigt sich an einer der wichtigsten Neuerungen von DSM-5, der Entscheidung, prämorbide Symptome zu diagnostizieren. Demnach sollen die Psychiater in Zukunft unter anderem Ausschau nach einem sogenannten abgeschwächten Psychose-Syndrom halten, das als Vorstufe einer möglichen Schizophrenie gilt. Wer also als Jugendlicher seit mindestens einem Monat, mindestens einmal in der Woche Wahnvorstellungen hat, halluziniert oder durcheinander redet, gilt als Kandidat für diese verheerende psychische Krankheit .
Vor allem dieser Schritt empört Allen Frances: "Die Folge wird die totale Medikalisierung des Normalen sein, die ernst-hafte psychische Störungen trivialisieren und zu einer Flut unnötiger medikamentöser Behandlungen führen wird", schimpft der Psychiater: "DSM-5 könnte die Welt mit zehn Millionen neuer aber falscher Patienten füllen." Diese Behauptung ist nicht völlig absurd angesichts der Erfahrungen mit der Begehrlichkeit und Skrupellosigkeit der Pharmaindustrie, vor allem nicht in den USA, wo die Ärzte sehr viel mehr Pillen verschreiben - anstatt die eigentlich angezeigte Psychotherapie zu verordnen. Zudem ist die Gefahr real, dass Betroffene auf Dauer stigmatisiert werden.
Doch gerade deutsche Psychiater halten dagegen. "Nur weil jemand einen schizophrenen Bruder hat und sich etwas seltsam verhält, werde ich doch nicht einem 14-Jährigen gleich ein Neuroleptikum geben", versichert Falkai. Erstmal gehe es um weitere Beobachtung, vielleicht eine Verhaltenstherapie. Heute wisse man, dass die Schizophrenie eine Hirnentwicklungsstörung ist, die sicherlich in der frühen Kindheit beginnt, sagt auch Andreas Meyer-Lindenberg, Direktor des Mannheimer Zentralinstituts für seelische Gesundheit. "Die Diagnose und Therapie der Schizophrenie zum Zeitpunkt der ersten Psychose ist so etwas wie die Behandlung kardiovaskulärer Erkrankungen zur Zeit des ersten Herzinfarkts - nämlich häufig zu spät."
Übertrieben ist auch die Angst, dass in Zukunft Psychiater durch Schulflure und Pausenhöfe ziehen werden, auf der Suche nach neuen Patienten. Vielmehr gehört zu den vorgesehenen Kriterien des präpsychotischen Syndroms, dass die Betroffenen bereits von sich aus Hilfe suchen. Die DSM-5-Autoren nehmen also an, dass die meisten dieser jungen Menschen bereits im Gesundheitssystem behandelt werden, aber eben nicht die richtige Therapie erhalten. Falsch sei auch die Behauptung vieler Kritiker, dass nur ein Bruchteil der Menschen mit den entsprechenden Symptomen tatsächlich später an Schizophrenie erkrankt. Die vorliegenden Studien ermittelten Raten von mindestens 20 bis 40 Prozent.
Das Dilemma mit den möglicherweise stigmatisierenden falsch-positiven Diagnosen bleibt. Es wird sich erst lösen, wenn sich die derzeitigen Fortschritte in der Genetik und Neuroforschung auch im klinischen Alltag niederschlagen, sodass man mit Hirnscannern und Biomarkern zuverlässig diagnostizieren kann. Am National Institute of Mental Health in den USA etwa arbeitet bereits eine Forschergruppe an einer psychiatrischen Diagnostik, die nicht allein nach Symptomen, sondern nach Ursachen sucht. Wenn sie Erfolg haben sollte, wäre das wirklich eine Revolution.