Das Auftreten psychotischer Erkrankungen unterscheidet sich europaweit je nach Region bis um das Achtfache. Das zeigt eine Studie von Forschern des University College London, dem King's College und der University of Cambridge, erschienen im Fachmagazin Jama Psychiatry.
Nach Angaben der Autoren handelt es sich um den bislang größten internationalen Vergleich von Erkrankungszahlen psychotischer Störungen in den vergangenen 25 Jahren. Die Wissenschaftler untersuchten die Inzidenz, also das zeitliche Auftreten diagnostizierter Fälle in Großbritannien und Nordirland, Frankreich, Italien, den Niederlanden, Spanien und Brasilien. Untersucht wurden 2774 Patienten zwischen 18 und 64 Jahren in insgesamt 17 Regionen, darunter sowohl ländliche Bereiche als auch Großstädte.
Die Studie zeigt, dass von 100 000 Menschen etwa 21 pro Jahr an einer psychotischen Störung erkranken - allerdings mit erheblichen regionalen Abweichungen. So sind beispielsweise im ländlichen Raum um die spanische Stadt Santiago etwa 6 von 100 000 Menschen betroffen, in Paris hingegen 46. "Es ist bekannt, dass psychotische Störungen vererbt werden können, aber die Gene erzählen nicht die ganze Geschichte. Unsere Ergebnisse lassen vermuten, dass Umweltfaktoren ebenso eine wichtige Rolle spielen", sagt Studienautor James Kirkbride.
Dämpft Wohneigentum die Sorge vor Armut und sozialer Isolation?
Allerdings: Faktoren wie Alter, Geschlecht oder soziale Zugehörigkeit reichten neben genetischen Ursachen als Erklärung nicht aus, schreiben die Autoren. Auf der Suche nach weiteren Ursachen für die Unterschiede berücksichtigten die Autoren zudem das Verhalten der Probanden: So ist davon auszugehen, dass Patienten in Großstädten wie London oder Paris häufiger Hilfsangebote annehmen als im ländlichen Gebiet - und daher hier auch die Zahl der Diagnosen höher ist.
Doch die Forscher stießen bei der Suche nach weiteren möglichen Erklärungen auf einen durchaus überraschenden Aspekt: So scheint die Zahl der Erkrankten in jenen Gebieten besonders niedrig zu sein, in denen viele Menschen ihr eigenes Zuhause bewohnen. Dies könnte ein Hinweis sein, dass Wohneigentum die Sorge vor Armut und sozialer Isolation dämpft, da Menschen seltener allein und eher umgeben von Familie oder Freunden leben.
In Großstädten hingegen, in denen viele Menschen allein zur Miete wohnen und soziale Spannungen manchmal enorm sind, könnte, so die Autoren, das Gefühl der sozialen Isolation und Unsicherheit größer sein. Schon länger bekannt ist, dass psychotische Erkrankungen in großen Städten häufiger auftreten. Überraschend an der aktuellen Studie ist das Ausmaß.
Die Wissenschaftler fordern daher tiefergehende Untersuchungen der sozialen Ursachen psychotischer Erkrankungen. Man habe, schreiben sie in Jama Psychiat ry, in den vergangenen Jahrzehnten große Fortschritte in der Entschlüsselung genetischer Faktoren gemacht. Jetzt aber müsse man sich außerdem dringend mit der Frage beschäftigen, wie das Zusammenspiel von Umwelt und Genen funktioniert - und wie genau Hilfsangebote verbessert werden können.