Zurzeit ist es das Lassafieber, das in Nigeria die Fallzahlen in nie gesehene Höhen schnellen lässt. Innerhalb von acht Wochen wurden mehr als 300 Erkrankte gezählt, 72 starben. Das mag nicht dramatisch klingen, doch Peter Salama, bei der Weltgesundheitsorganisation WHO für den Seuchenschutz zuständig, sagt: "Wir sind besorgt". Denn das mit Ebola verwandte Lassafieber gehört zu jenen Erkrankungen, denen die WHO zutraut, sich zur nächsten großen Seuche zu entwickeln. Zu einem Ausbruch, der Teile der Welt in Aufruhr versetzt und am Ende die Frage offenlässt, warum das bloß niemand hatte kommen sehen.
Spätestens nach der Ebola-Krise im Jahr 2014 wurde diese Frage so deutlich gestellt, dass sich die Weltgemeinschaft mittlerweile veranlasst sieht, stärker in die Vorbeugung gegen Infektionskrankheiten zu investieren - und dabei auch Prognosen zu wagen. So legen nun sowohl die Weltbank als auch die WHO Listen von Erregern vor, denen sie ein ausgeprägtes Potenzial für größere Epidemien oder gar Pandemien zutrauen - und gegen die sie sich durch Notfallfonds und Forschung wappnen wollen. Zu den wichtigsten Verdächtigen gehören eine Reihe der sogenannten hämorrhagischen Fieber, einer Gruppe, in die auch das Lassafieber fällt.
Die Krankheiten sind Paradebeispiele für den Schrecken, den Seuchen verbreiten können. Sie verlaufen bisweilen so grauenhaft, dass nicht nur der Organismus der Kranken, sondern auch das soziale Gefüge im Umkreis des Ausbruchs kollabieren kann. Denn wo schwer fiebernde Menschen bluten, wo die Ernährer von Großfamilien hilflos sterben, drohen Panik, Unruhen, Stigmata, der Zusammenbruch der Gesundheitsversorgung und ganzer Wirtschaftszweige.
Ebola wurde massiv unterschätzt, Zika auch - wieso sollte man den neuen Prognosen trauen?
Zu den Kandidaten für schwere Epidemien zählen zudem Coronaviren, die Atemwegserkrankungen wie Sars und Mers auslösen können. Sars ist seit 14 Jahren nicht mehr aufgetreten, doch die Krankheit ist durch ihre enorm schnelle Verbreitung in Erinnerung geblieben. Quasi aus dem Nichts tauchte der Erreger 2003 in China auf, und noch ehe jemand begriffen hatte, was vor sich ging, war er um den halben Erdball gereist und verbreitete sich sogar in Ländern mit gut ausgebauten Gesundheitssystemen wie Kanada und Singapur.
Die Weltbank listet zusätzlich die Influenza auf, die vielen Experten ohnehin als Hauptverdächtige für eine neue Pandemie gilt. Schließlich ist sie in den vergangenen 100 Jahren schon dreimal mit verheerenden Folgen um die Welt gezogen. Die WHO, die sich mit ihrer Prioritätenliste vor allem auf jene Erreger konzentriert, gegen die bisher kaum ein Kraut gewachsen ist, führt zudem noch das Zika-Virus auf sowie einen Erreger, von dem die meisten Menschen wohl noch nie etwas gehört haben: das Nipah-Virus.
Der Erreger wird seit 1998 in Malaysia, Bangladesch und Teilen Indiens beobachtet, wo er tödliche Gehirnentzündungen auslöste. Bei einigen Ausbrüchen starben mehr als 70 Prozent der Erkrankten. Derzeit stecken sich Menschen überwiegend bei Schweinen an. Sollte sich der Erreger aber verändern und sich leichter unter Menschen verbreiten, wäre die Lage extrem ernst.
Bis hierhin wären die Einschätzungen vergleichsweise übersichtlich, stünde auf der WHO-Liste nicht seit Kurzem auch die "Krankheit X". Hinter dem Kürzel kann sich ein bekannter Erreger verbergen, der sich verändert hat oder eine bis dahin nicht bekannte Eigenschaft offenbart, sagt Peter Salama. X kann aber auch eine unbekannte Mikrobe sein, die irgendwo in der Wildnis lauert, ohne dass die Welt gegen sie gerüstet ist. Geht man von den Erfahrungen der Vergangenheit aus, ist X am wahrscheinlichsten ein Virus, das von einem Wildtier auf einen Menschen überspringt. Zu diesen Tieren dürften in erster Linie solche gehören, die in enger Nähe zum Menschen leben, was vor allem Ratten zur Bedrohung macht.
Auch Affen sind verdächtige Wirte, da sie so eng mit dem Menschen verwandt sind, sowie Fledermäuse, weil sie eine große Zahl verschiedener Viren beherbergen. Zu diesen Einschätzungen kamen unter anderem Wissenschaftler des von der US-Regierung finanzierten Predict-Programms zur Seuchenvorhersage. Sie identifizierten zugleich Orte, an denen sich potenziell gefährliche Viren am ehesten verbergen. Dazu gehören Fledermauskolonien in Mittel- und Südamerika oder Ratten in Zentral-afrika und Teilen Amerikas.
Die Vorhersagen sind zwar nicht besonders präzise, sondern setzen eher Prioritäten für weitere Vorhaben, deren ambitioniertestes derzeit das Global Virome Project ist. Ab diesem Sommer soll das von verschiedenen öffentlichen und privaten Institutionen finanzierte Projekt so gut wie alle Viren beschreiben, die den Menschen infizieren könnten. Ihre Zahl wird auf 600 000 bis 800 000 geschätzt. Eine gewaltige Menge angesichts der geringen Anzahl krankmachender Viren, die der Mensch derzeit kennt: Es sind etwa 260.
Kritiker des Projekts verweisen darauf, dass es schon bei diesen Erregern nur unzureichend gelingt, treffende Vorhersagen zu erstellen. So erinnerten Biologen aus Sydney in der Fachzeitschrift Open Biology daran, wie kolossal falsch manche Prognosen in der Vergangenheit waren. Ebola beispielsweise galt als unwahrscheinlicher Kandidat für eine größere Epidemie. Das Virus tötet seine Opfer so schnell, dass es nicht mehr effektiv weiterverbreitet wird, hieß es lange Zeit.
Das Zika-Virus galt mehr als 60 Jahre lang als relativ harmlos. Ebenso wiesen frühere Versuche, die Hotspots der Seuchengefahren zu lokalisieren, bisweilen grobe Fehleinschätzungen auf. Saudi-Arabien etwa wurde als eher ungefährlicher Ort beschrieben, tatsächlich tauchte genau dort das Mers-Virus auf - in Dromedaren, die nicht als typische Wirtstiere wahrgenommen wurden. Die Beschreibung einer enormen Zahl von Viren werde wohl kaum Informationen zur Pandemie-Prognose liefern können, so die Wissenschaftler.
In einem Kommentar im Lancet war vor wenigen Tagen sogar zu lesen, dass die Welt wohl am ehesten eine "Anti-Hybris-Impfung" brauche, wenn sie glaube, die Veränderungen der mikrobiologischen Welt vorhersagen oder gar kontrollieren zu können. Auch Salama ist zurückhaltend, was den künftigen Schutz vor Epidemien angeht: "Wir sind heute besser vorbereitet als zur Zeit von Ebola. Dennoch: Die Welt ist nicht komplett sicher." An seinem Arbeitsplatz werden 5000 Ausbrüche pro Monat registriert, jede dieser Meldungen könnte der Beginn einer neuen schweren Seuche sein.