Konnektomik:Blick ins Gehirn, detailreich wie nie

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Die Nervenzellen sind nach Größe und Funktion farbig markiert. Nicht abgebildet sind unter anderem Gliazellen oder Blutgefäße. (Foto: Google Research & Lichtman Lab (Harvard University). Renderings by D. Berger (Harvard University))

100 Milliarden Nervenzellen stecken im menschlichen Gehirn. Jetzt konnten Forscher einen winzigen Teil davon dreidimensional abbilden.

Auf Basis eines Hirnfragments eines Menschen haben US-Forschende ein extrem detailliertes 3-D-Computermodell von Teilen der Großhirnrinde erzeugt. Der rekonstruierte Bereich ist dabei nur einen Kubikmillimeter groß, wie das Team um Jeff Lichtman vom Center for Brain Science der Universität Harvard im Fachblatt Science schreibt. Aufgrund der enormen Komplexität unseres Gehirns finden sich aber schon in diesem winzigen Ausschnitt Dutzende Millionen einzelner Strukturen.

Das Modell beinhaltet 57 000 Zellen (darunter rund 16 000 Neuronen), 23 Zentimeter an Blutgefäßen und 150 Millionen Synapsen, wie Lichtman und sein Team berichten. Auch sogenannte Gliazellen, die unter anderem Stütz- und Versorgungsaufgaben im Nervengewebe übernehmen, sind zu sehen. Zudem kann man Myelin, die isolierende Schicht um die Fortsätze der Nervenzellen, erkennen.

Ein einzelnes Neuron (weiß). Synapsen, die Verbindungsstellen zu anderen Neuronen, sind grün markiert. (Foto: Google Research & Lichtman Lab (Harvard University). Renderings by D. Berger (Harvard University))

Solche detaillierten Aufnahmen des Gehirns - einschließlich von Neuronen und deren Verknüpfungen - sind wichtig, um die Funktionsweise des Gehirns zu verstehen. "Das menschliche Gehirn ist ein äußerst kompliziertes Gewebe. Bislang ist aber nur wenig über seine zelluläre Mikrostruktur, wie beispielsweise die synaptischen Schaltkreise, bekannt", schreibt das Team. Unterbrechungen dieser Schaltkreise seien wahrscheinlich mit verschiedenen Erkrankungen des Gehirns verbunden.

Als Vorlage für das Modell diente ein winziges Stück des sogenannten Temporallappens der Großhirnrinde eines lebenden Menschen. Hirnchirurgen hatten das Fragment einer 45-jährigen Frau entnommen, um bei einer operativen Behandlung von Epilepsie Zugang zu einem bestimmten Bereich im Hippocampus zu bekommen. Das entnommene Fragment würde rein rechnerisch 1000 Mal in einen Würfel mit einem Zentimeter Seitenlänge passen.

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Das Team um den Neurowissenschaftler Lichtman hobelte das winzige Hirnfragment in hauchfeine Scheiben, scannte jede davon mit einem Elektronenmikroskop und setzte die Schnittbilder zu einem dreidimensionalen Computermodell zusammen. Es ist im Internet frei zugänglich, auch interessierte Laien können sich also mit etwas Übung durchs Gehirn scrollen. In den Hirnschnitten wurden zunächst die verschiedenen Zelltypen markiert, sodass es den Forschenden möglich ist, im Computermodell einzelnen Neurone und ihre Verbindungen zu anderen Zellen zu betrachten.

Die Forscher haben mit ihrem 3-D-Modell schon erste Erkenntnisse erlangt. So zählten sie im abgebildeten Bereich doppelt so viele Glia- wie Nervenzellen. Der am häufigsten vorkommende Zelltyp seien sogenannte Oligodendrozyten. Diese Zellen gehören zu den Gliazellen, umgeben die sogenannten Axone von Nervenzellen - also die Fortsätze der Neuronen, die für die Weiterleitung von elektrischen Signalen zuständig sind - und bilden dort die isolierende Myelinschicht.

Die Forschenden hoffen, dass auch andere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen das neue Hirnmodell nutzen. "Weitere Studien mit dieser Anwendung könnten wertvolle Einblicke in die Geheimnisse des menschlichen Gehirns bringen." Zwar steckten Bemühungen, Daten zur Konnektivität neuronaler Schaltkreise zu verstehen, noch in den Kinderschuhen. "Aber dieser Petabyte-Datensatz ist ein Anfang."

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