In deutschen Krankenhäusern werden Menschen oft fälschlicherweise für hirntot erklärt. Das geht aus Unterlagen hervor, die der Süddeutschen Zeitung vorliegen. Demnach kommt es immer wieder zur Ausstellung von Totenscheinen, ohne dass der Hirntod nach den dafür vorgesehenen Richtlinien diagnostiziert worden ist. Ursache ist nach SZ-Recherchen eine unzureichende Ausbildung der Ärzte. So streiten Mediziner nach der Todesfeststellung zum Teil darüber, wie der Hirntod richtig zu bestimmen sei. Totenscheine, die schon ausgestellt waren, mussten somit korrigiert werden.
In einem Fall - bei einem Kleinkind - entnahmen Mediziner Organe für die Transplantation, ohne dass der Hirntod richtig diagnostiziert worden war. In acht weiteren Fällen aus den vergangenen drei Jahren, die der SZ vorliegen, haben Mitarbeiter der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) die Fehler gerade noch rechtzeitig vor der Organentnahme entdeckt.
Die DSO-Mitarbeiter sind allerdings gar nicht für die Kontrolle der Hirntoddiagnostik zuständig. Es ist die Aufgabe von Ärzten, das zu überprüfen, sie stehen in der Hierarchie viel höher als die DSO-Mitarbeiter. Diese trauten sich deshalb häufig gar nicht, die Mediziner auf ihre Unkenntnis hinzuweisen: "Viele Kollegen verkneifen sich eine Korrektur. Sie nehmen die falsche Diagnostik einfach hin und leiten die Organspende ein", sagte ein Insider der SZ. Eine frühere DSO-Mitarbeiterin bestätigt dies: "Den Mut, sich mit den Fachärzten anzulegen, haben die wenigsten", sagt sie.
Störrische Ärzte
So kam es bei den der SZ vorliegenden Fällen auch zu schnippischen Reaktionen der Ärzte. Häufig wollten sie von ihren Fehlern nichts wissen und beharrten auf dem Standpunkt, alles richtig gemacht zu haben. Sie mache das immer so, sagte eine Ärztin. Und sie habe jetzt keine Zeit, die Diagnostik noch einmal unter anderen Bedingungen zu wiederholen. Eine andere Ärztin weigerte sich, den aufgrund der falschen Todesfeststellung ausgestellten Totenschein zu korrigieren. Sie wisse gar nicht, wie das gehe: der Verwaltung einen verstorbenen Patienten wieder lebendig melden. Oft gaben die Ärzte erst nach, nachdem sich höhere Stellen eingeschaltet hatten.
Der Hirntod gilt in Deutschland neben dem Herztod als der Tod des Menschen. Egal welches Organ zuerst versagt - nach einer gewissen Zeitspanne wird auch das andere aufhören zu arbeiten, sofern keine lebensverlängernden Maßnahmen ergriffen werden. Doch gerade für Organspenden ist der Hirntod nach dem Transplantationsgesetz unabdingbare Voraussetzung. Einem Herztoten werden keine Organe entnommen.
Die Anforderungen an die Hirntoddiagnose sind in Deutschland daher besonders hoch: So müssen die Gesamtfunktionen des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms irreversibel ausgefallen sein.
Für die Transplantationsmedizin ist es deshalb zwingend nötig, dass sich Menschen auf die Hirntoddiagnosen verlassen können. Deshalb hängt vom Umgang mit Hirntoten in deutschen Krankenhäusern auch die Bereitschaft der Menschen zur Organspende ab. Deshalb ist es so wichtig, dass hier keine Fehler gemacht werden.
Wer den Hirntod feststellen will, muss sich daher an wichtige Regeln halten: Alle Umstände, die das Gehirn nur betäuben - Medikamente, eine zu niedrige Körpertemperatur, Koma oder Vergiftung -, müssen zum Beispiel bei der Diagnose zwingend ausgeschlossen sein. In mehreren der SZ vorliegenden Fällen aber wurde der Hirntod bestimmt, obwohl die Patienten gerade erst mit starken Schmerzmitteln wie Sufentanil oder Propofol betäubt worden waren.
"Die Ausbildung der Ärzte hat ein starkes Qualitätsdefizit"
Die Hirntoddiagnostik in Deutschland sei sicher, betont DSO-Vorstand Rainer Hess trotz allem. Nur in zwei Fällen sei es in den vergangenen Jahren nach einer fehlerhaften Hirntodfeststellung auch zur Organentnahme gekommen. Beide Male, auch bei dem Kleinkind, habe sich später gezeigt, dass die Spender bei der Organentnahme tatsächlich hirntot gewesen seien, auch wenn es Mängel bei der Diagnostik gegeben habe. Die Zahl der weiteren der SZ vorliegenden Fälle belaufe sich nicht einmal auf ein Prozent der in diesem Zeitraum durchgeführten Hirntoddiagnostiken, betonte Hess. Außerdem seien sie ja durch die DSO-Mitarbeiter entdeckt worden. All dies zeige, "dass die Handhabung von Zweifelsfällen vorbildlich verläuft und die Koordinatoren ihrer formalen Kontrollfunktion umfänglich nachkommen".
Auch die Vorsitzenden der drei Kontrollkommissionen des Transplantationswesens betonen in einem gemeinsamen Schreiben an die SZ, die Qualität der Hirntodfeststellung sei "gesichert und sehr hoch". Weltweit habe es "nach Angaben der Bundesärztekammer keine Feststellungen über getroffene Fehldiagnosen" gegeben, "soweit der Hirntod nach den Richtlinien zur Feststellung des Hirntodes festgestellt wurde".
Die SZ-Recherchen belegen aber gerade Fälle, in denen diese Regeln nicht eingehalten wurden. Außerdem werden naturgemäß nur solche Fälle bekannt, in denen die mangelhafte Hirntoddiagnostik überhaupt auffällt und Konsequenzen hat.
Für die Organspende wird der Hirntod in Deutschland pro Jahr bei etwa 2000 Menschen diagnostiziert. Das ist in allen 1200 Krankenhäusern mit einer Intensivstation möglich. Denn der Hirntod kann nur festgestellt werden, solange der Körper des Betroffenen beatmet wird. Das Herz schlägt in diesem Zustand noch weiter, die Haut wird durchblutet. Auch andere Körperfunktionen werden aufrechterhalten. So wurden auch schon Schwangerschaften bei Hirntoten fortgeführt.
Für die Diagnose gilt ein umfangreiches Regelwerk der Bundesärztekammer. Dieses besagt zum Beispiel, dass "zwei qualifizierte Ärzte" übereinstimmend und unabhängig voneinander den Hirntod feststellen müssen, bevor der Totenschein ausgestellt werden kann. Als Qualifikation genügt aber "eine mehrjährige Erfahrung in der Intensivbehandlung von Patienten mit schweren Hirnschädigungen".
Das scheint in der Praxis nicht auszureichen. "Die Ausbildung der Ärzte hat ein starkes Qualitätsdefizit", sagt der Transplantationschirurg Gundolf Gubernatis, der früher geschäftsführender Arzt der DSO war. Dabei sei die Verlässlichkeit doch unabdingbar: "Tot oder nicht tot - keine andere Feststellung in der Medizin verlangt doch so viel Genauigkeit", sagt er. Gemeinsam mit dem Neurologen Hermann Deutschmann vom Nordstadtkrankenhaus in Hannover kämpft er seit Jahren für eine Qualitätssicherung. "Die Hirntoddiagnostik ist eines der sichersten Verfahren überhaupt", sagt Deutschmann, "wenn man die Richtlinien beachtet und Erfahrungen auf diesem Gebiet hat."
Erfahrungen mit dem Hirntod können in Deutschland aber nicht einmal alle Intensivmediziner haben, sagt Gundolf Gubernatis. An kleineren Kliniken treffen Mediziner durchschnittlich nicht einmal alle zwei Jahre auf einen Hirntoten. Als Gubernatis noch bei der DSO arbeitete, hatte er deshalb ein ständig erreichbares Mobiles Konsiliarteam mit speziell ausgebildeten Ärzten eingerichtet, das auf Anfrage bei der Hirntodfeststellung half. Doch nach Gubernatis' Weggang aus der DSO wurde das Projekt in dieser Form eingestellt.
Als Mitarbeiter des Konsiliarteams hatte Hermann Deutschmann schon im Jahr 2004 festgestellt, wie häufig Ärzte Menschen fälschlicherweise für tot erklären. In rund 30 Prozent der Fälle, in denen Deutschmann als Zweitgutachter zur Hirntodfeststellung hinzugerufen wurde, konnte er die Diagnose seiner Kollegen nicht bestätigen. Deshalb fordern Gubernatis und Deutschmann seit Jahren eine von der Ärztekammer geprüfte Zusatzqualifikation für Ärzte, die den Hirntod bestimmen. Gehört wurden sie bisher nicht.
Eine ausführliche Reportage zu diesem Thema lesen Sie am Dienstag in der Süddeutschen Zeitung.