Coronavirus:Wie sich Ärzte entscheiden sollen

Coronavirus: "Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden": Ein Zelt zur Aufnahme von Patienten vor einem Krankenhaus in Warschau im März 2020.

"Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden": Ein Zelt zur Aufnahme von Patienten vor einem Krankenhaus in Warschau im März 2020.

(Foto: Czarek Sokolowski/AP)
  • In einigen Ländern wie zum Beispiel Italien müssen Ärzte Triage-Entscheidungen treffen, um Menschenleben zu retten.
  • Bei der Entscheidungsfindung spielen neben dem Zustand des Patienten auch die Ressourcen eine Rolle.
  • Ethiker sehen die Erfolgsaussicht als entscheidendes und auch moralisch vertretbares Kriterium.

Von Werner Bartens

Der französische Chirurg Dominique-Jean Larrey war praktisch veranlagt. Er führte während der Koalitionskriege (1792 bis 1815) "Fliegende Lazarette" ein. Das waren von Pferden mitgeführte Körbe für chirurgisches Material, die bald durch leichte Wagen ersetzt wurden. So wurden Verwundete auf dem Schlachtfeld gerettet. Zuvor waren viele auf dem Weg ins Lazarett gestorben. Larrey teilte Verletzte zudem nach der Schwere ihres Leidens ein. Diese Klassifikation mag unmenschlich erscheinen - die Einteilung nach Erfolgsaussichten steigerte jedoch die Überlebensquote der von Larrey Operierten erheblich.

Kein Arzt trifft die Entscheidung über die Dringlichkeit einer Behandlung gerne, wenn es mehr Verletzte oder Kranke gibt, als versorgt werden können. Der aus dem französischen Sanitätsdienst übernommene Begriff der Triage, was Auswahl oder Einteilung bedeutet, ist aus der Militärmedizin lange bekannt. Es geht darum, jene zuerst zu behandeln, bei denen die Erfolgsaussichten am größten sind. In der Kriegsmedizin bedeutete dies, dass Ärzte zunächst mittelschwere Fälle versorgten. Wer leicht verletzt war und ohnehin überlebte, kam ebenso später oder gar nicht dran wie jene, bei denen es kaum Hoffnung gab.

In Zeiten der Corona-Pandemie werden solche sonst auf Kriege und Katastrophen beschränkte Szenarien nun aktuell. Kürzlich hat die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin mit anderen Fachverbänden und Medizinethikern Empfehlungen herausgegeben. "Entscheidungen über die Zuteilung von Ressourcen in der Notfall- und der Intensivmedizin im Kontext der Covid-19-Pandemie" lautet der Titel des elfseitigen Papiers. Es geht darum, wer bei schwerem Verlauf auf die Intensivstation kann und wer nicht - für den Fall, dass die Kapazität des Gesundheitswesens nicht ausreicht.

Wenn es nötig ist, intensivmedizinisch zu behandeln, wird demnach abgewogen, ob es "realistische klinische Erfolgsaussichten einer Intensivtherapie zum aktuellen Zeitpunkt" gibt. Ist dies der Fall, folgt die "Priorisierung im Mehr-Augen-Prinzip nach Prüfung von Indikatoren, des bisherigen Therapieerfolgs und der Ressourcen". Als Indikatoren für geringe Erfolgsaussichten gelten schwere Erkrankungen und begleitendes Versagen anderer Organe, aber auch weit fortgeschrittene neurologische oder onkologische Erkrankungen, sowie eine schwere Immunschwäche, Multimorbidität und erhöhte Gebrechlichkeit. Natürlich müssten "in angemessenen Abständen und in jedem Fall bei klinisch relevanten Veränderungen oder veränderten Ressourcen" Erfolgsaussichten immer wieder neu beurteilt werden. Dazu gehöre es auch, die Intensivtherapie abzubrechen, wenn das "Therapieziel nicht mehr realistisch erreichbar" ist.

"Jede Triage-Entscheidung ist tragisch - da sträuben sich immer die moralischen Nackenhaare", sagt der Medizinethiker Georg Marckmann von der Ludwig-Maximilians-Universität München. Jedes Kriterium könne man kritisieren, weshalb es darum gehe, welches am wenigsten problematisch sei. "Wenn Intensivkapazitäten nicht mehr ausreichen, um alle Patienten zu behandeln, sollte die Zuteilung so organisiert sein, dass mit begrenzten Ressourcen die meisten Menschenleben gerettet werden", so Marckmann. "Anders ausgedrückt: So mit der Knappheit umgehen, dass die wenigsten Menschen sterben müssen."

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Man könnte mit dem "Schleier des Nichtwissens" argumentieren, wie es der amerikanische Philosoph John Rawls formulierte: Für welches Verteilungssystem würde sich eine Gesellschaft entscheiden, wenn niemand wüsste, wie alt, gesund, wohlhabend oder sozial anerkannt die Patienten sind? Vermutlich würde mit der Knappheit so umgegangen werden, dass die meisten Menschenleben gerettet werden; nebenbei maximiert dies auch die individuelle Überlebenschance.

"Ich halte die gestufte Entscheidung zunächst nach Dringlichkeit - dem maßgeblichen Kriterium in der Katastrophenmedizin - und bei weiterer Ressourcenknappheit nach der Erfolgsaussicht für gerechtfertigt", sagt die Göttinger Medizinethikerin Claudia Wiesemann. "Unter den diskutierten Kriterien genügt die Erfolgsaussicht am ehesten Gerechtigkeitsüberlegungen, denn sie ist auf das Individuum bezogen und kein pauschales, gruppenbezogenes - und damit potenziell diskriminierendes - Kriterium wie das Alter." In einer Situation, die eine Triage erzwingt, sei dies am ehesten zu rechtfertigen. "Beide Kriterien werden für die Verteilung knapper Organe zur Transplantation als maßgeblich genannt und wurden juristisch als gerechtfertigt eingestuft."

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