Corona-Lockerungen:Freiheit - mit Augenmaß

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Der Alltag der Freizeit scheint zum Greifen nahe. Und doch bleibt die Frage: Soll ich alles, was ich jetzt darf? (Foto: Christoph Soeder/dpa)

Das kommende Wochenende ist das erste, an dem wieder vieles erlaubt ist, was lange verboten war. Aber: Soll man auch alles tun, was man darf?

Kommentar von Gunnar Herrmann

Vatertag, Himmelfahrtstag - das ist in diesem Land schon immer eine Art inoffizieller Sommeranfang gewesen. Einer dieser kleineren, aber für manche besonders beliebten Festtage, den man gerne im Freien mit Familie, Freunden, Bekannten und Nachbarn feiert. Es ist ein Tag, dem nicht so viele Traditionen aufgebürdet sind wie zum Beispiel Ostern oder Weihnachten - und der darum Freiraum lässt für ganz persönliche Rituale, die von vielen Menschen Jahr für Jahr zelebriert werden. Für den einen mag der Besuch eines Gottesdienstes mit anschließender Prozession dazugehören, für andere der Männerausflug mit Bier und Bollerwagen, oder das Grillfest mit Familie und Nachbarn. Die Vorlieben am Himmelfahrtstag sind so vielfältig wie die Menschen in diesem Land. Doch in diesem Jahr wird vieles davon infrage gestellt.

Das kommende Wochenende wird zwar für viele das erste verlängerte Wochenende seit Monaten sein, an dem sie sich wieder relativ frei bewegen und tun können, was sie auch vor Corona getan haben. Reisen innerhalb Deutschlands sind möglich, Bergwandern ist wieder erlaubt, Freunde und Nachbarn dürfen einander besuchen, in vielen Biergärten locken gedeckte Tische, auch wenn es deutlich weniger sind als im vergangenen Sommer. Der Alltag der Freizeit scheint zum Greifen nahe. Und doch bleibt die Frage: Soll ich alles, was ich jetzt darf?

Die einfache Antwort ist: nein. Das Coronavirus ist noch nicht besiegt. Es ist noch genauso tödlich wie vor einem Monat. Die Bilder aus Ländern wie Brasilien, wo die Pandemie gerade besonders schlimm wütet, zeigen es jeden Tag deutlich. Die Gefahr, sich oder andere anzustecken, bleibt also, auch wenn sie in den vergangenen Wochen in den meisten Teilen Deutschlands zusehend kleiner geworden ist. Viele Experten raten dennoch weiterhin zur Vorsicht: Es ist nicht verkehrt, vernünftiger zu sein als die Regierung erlaubt. Aber was genau heißt das für den Einzelnen?

Eine Krise bringt oft besondere Eigenschaften einer Gesellschaft zum Vorschein. Was in den vergangenen Monaten besonders positiv auffiel, war die Gelassenheit und der Einfallsreichtum, auf welche Art und Weise die allermeisten Menschen die Beschränkung ihres Alltags hingenommen und oft genug sogar in etwas Gutes verwandelt haben. An diesem positiven Bild kann auch eine Minderheit nichts ändern, die kruden Verschwörungstheorien anhängt.

Was eher negativ ist: Der Hang zu Besserwisserei, der sich mancherorts Bahn bricht. Es hilft nicht, bei Twitter Fotos von Spaziergängern zu posten und sie mit einem mahnenden "Stay the fuck home" anzuprangern. Ebenso unangebracht ist es, in der Supermarktschlange zu drängeln mit dem Hinweis, die anderen sollten mal nicht so ängstlich sein.

Sorgen und Probleme, die von der Corona-Krise verursacht wurden, sind so vielfältig, dass es darauf eben keine einfachen Antworten geben kann. Denn die Frage, die sich stellt, ist ja: Was genau ist eigentlich vernünftig für mich? Soll ich meinem hochbetagten Vater den Besuch am Vatertag verweigern, obwohl ich weiß, dass er sich nach Familie sehnt? Soll ich der Tochter verbieten, mit der besten Freundin auf den Spielplatz zu gehen? Soll ich den besten Freund alleine im Café sitzen lassen, obwohl er Single ist und unter der monatelangen Einsamkeit leidet?

Es ist gut, dass die strikten Einschränkungen des Alltags nun von der Politik gelockert wurden. Damit wird den Bürgern ein Stück Freiheit zurückgegeben. Und Freiheit ist die unabdingbare Grundlage, auf der vernünftiges Handeln erst möglich wird. So notwendig die Beschränkungen waren, um die Pandemie einzudämmen und ein Bewusstsein für die neue Gefahr zu schaffen - sie können keine Dauerlösung sein für eine Gesellschaft. Nach der ersten, gemeinsamen Anstrengung im Kampf gegen das Virus folgt nun der nächste Schritt: die Suche nach individuellen Lösungen, die es jedem und jeder Einzelnen erlauben, den Kampf im eigenen Alltag fortzusetzen. Das wird nicht mehr der Alltag sein, wie wir ihn vor der Krise kannten. Aber es muss ein Alltag werden, mit dem wir auf lange Sicht gut leben können - denn die Bedrohung wird sobald nicht verschwinden.

Damit das klappt, werden sich alle immer wieder auf die Grundvoraussetzungen besinnen müssen, die im Kampf gegen das Virus ja nach wie vor gelten: Soziale Kontakte und Menschenansammlungen, sind zu vermeiden, wenn sie unnötig sind. Was unnötig ist, wird letztlich im gesetzlichen Rahmen jeder für sich selbst entscheiden müssen. Ein Kneipenwirt mit Existenzsorgen wird die Frage anders beantworten, als eine Rentnerin im Altenheim, ein Großstadtsingle anders als eine Familie auf dem Dorf.

Diese Unterschiede gilt es auszuhalten - ohne erhobenen Zeigefinger. Und dabei Vertrauen in seine Mitmenschen zu haben, mit der Hoffnung, dass - wenn alle für sich nach vernünftigen Lösungen suchen - wir am Ende gemeinsam etwas einigermaßen Gutes zustande bringen. Die vergangenen Wochen haben gezeigt, dass es durchaus Grund für Optimismus gibt. Der Sommer kann kommen.

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