Pandemie:Lückenhafte Corona-Forschung

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Wer steckt sich wo an? Die Frage ist in Deutschland nicht ausreichend erforscht. (Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa)

In Deutschland fehlen nicht nur gute klinische Studien, sondern auch Daten zur sozialen Dimension der Infektion.

Kommentar von Werner Bartens

England, du hast es besser. Trotz Brexit-Chaos, einer irrlichternden Regierung und seltsamen Essgewohnheiten gibt es Gründe, neidisch auf dich zu sein. Die Forschung spielt dort in einer anderen Liga und das ist in Zeiten der Pandemie von erheblicher Bedeutung. Dies zeigt sich nicht nur an den auf der Insel etablierten Sequenzierungen des Genoms, mit denen die Mutante des Coronavirus erst entdeckt und ihre Verbreitung fast in Echtzeit nachvollzogen werden konnte. In Deutschland ist man hingegen erst dabei, Stichproben auszuwerten; von repräsentativen Daten kann nicht die Rede sein. Ob und wie weit sich Mutanten in Deutschland ausgebreitet haben, weiß deshalb niemand sicher zu sagen.

In Deutschland fehlt das Wissen um soziale Dimensionen der Corona-Infektionen

Deutschland hat eine Tradition in mangelhafter medizinischer Überwachung. Krebsdaten sind so lückenhaft, dass daraus keine Schlüsse zur optimalen Therapie gezogen werden können. Das seit den 1970er-Jahren geforderte Register für künstliche Gelenke befindet sich erst im Aufbau, sodass manchmal immer noch Murks eingebaut wird. Doch nicht nur hier besteht Nachholbedarf, auch in anderer Hinsicht fehlt substanzielle Wissenschaft. Beides zeigt sich in der Corona-Krise schmerzhaft und ist womöglich ein Grund dafür, warum Deutschland von der zweiten Welle so stark getroffen wird. Im Sommer wurde viel versäumt.

Was fehlt, ist auch das Wissen um soziale Dimensionen der Infektion. Wer steckt sich wo an? Diese Frage können Gesundheitsämter mangels Ausstattung und als Folge systematischer Vernachlässigung schon lange nicht mehr beantworten. Soziologen, Sozialmediziner und Psychologen hätten die Werkzeuge. Zudem könnten sie untersuchen, wie sich Kontaktverhalten und Risikoprofil in der Bevölkerung unterscheiden. Welche Berufsgruppen stecken sich wie häufig an? Welchen Einfluss haben Bildung, Einkommen, Wohnsituation auf das Infektionsgeschehen? Dass sich Billiglohnkräfte in Großschlachtereien leichter anstecken, ist seit dem Sommer bekannt. Viel mehr ist seither nicht hinzugekommen.

Das Virus behandelt alle Menschen gleich? Klingt demokratisch und erspart Politikern, einzelnen Gruppen mehr Freiheit zuzugestehen oder zusätzliche Einschränkungen aufzuerlegen. Stimmt aber allenfalls zur Hälfte, denn die Menschen behandeln das Virus nicht alle gleich. So wichtig die Erkenntnisse von Virologen und Modellierern in der Pandemie sind - es fehlt das Wissen über soziale, ökonomische und psychologische Unterschiede, die eine Ausbreitung begünstigen oder erschweren. In England gibt es gute Daten über Ansteckungswege. Aus Deutschland kommen dazu kaum brauchbare Studien. Wenn es um Lehren aus der Pandemie geht, gehört diese dazu: In Deutschland braucht es nicht nur bessere, sondern auch besser vernetzte und anwendungsnahe Forschung.

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