Corona-Vakzin:Schlechte Stimmung

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Zucker gegen Kinderlähmung, 1961 in Österreich: Die Schluckimpfung lieferte schönere Bilder als Immunisierungen, für die Spritzen eingesetzt werden müssen. (Foto: dpa/SZ Photo)

In Rekordzeit wurde eine Impfung gegen Sars-CoV-2 entwickelt, doch statt Erleichterung dominieren Bedenken und Kritik. Warum eigentlich?

Von Werner Bartens

Unglaublich, in Deutschland wird geimpft. Seit dem 26. Dezember stechen Ärzte in Altersheimen, Kliniken und Impfzentren Spritzen gegen Sars-CoV-2 in freigelegte Oberarme. Bald werden eine Million Menschen in Deutschland das Vakzin bekommen haben. Eigentlich ist das eine bemerkenswerte Erfolgsgeschichte. Doch kaum fällt das I-Wort, ist nicht Erleichterung zu spüren, sondern scheint ein neues Unglück über das Land zu kommen. Von Krise, Chaos, Versagen und ärgerlichen Verzögerungen ist die Rede; von unklaren Langzeitfolgen und möglichen Nebenwirkungen. Es geht um geschwollene Einstichstellen, Mattigkeit und erhöhte Temperatur nach dem Piks. Dabei sind diese kurzfristigen Beeinträchtigungen ein erfreuliches Zeichen: Das Immunsystem reagiert.

Das Land der Dichter, Denker und Bedenkenträger trainiert seine Abwehrkräfte. Aber nicht etwa die immunologische Abwehr, sondern die Abwehrhaltung gegen das neue Vakzin. Monatelang wurde die Impfung als einzig effektive Antwort auf die Corona-Pandemie herbeigesehnt, wobei der ehrgeizige Zeithorizont von einem Jahr anfangs eher hilflosem Wunschdenken zu entspringen schien. Jetzt ist das Vakzin in Rekordzeit entwickelt worden, noch dazu wesentlich Made in Germany, aber irgendwie ist es auch nicht recht.

Gerade elf Monate sind seit den ersten Infektionen in Deutschland vergangen, doch über den Impfstoff heißt es derzeit oft: zu schnell, zu unsicher, zu schlecht kommuniziert. Nur knapp 60 Prozent der Befragten wären laut der aktuellen Umfrage im Rahmen des Monitoring-Projekts "Cosmo" wohl bereit, sich gegen Covid-19 impfen zu lassen; mehr als Anfang Dezember, aber deutlich weniger als im vergangenen Frühjahr. Zugleich ist die Empörung groß darüber, dass es in anderen Ländern schneller mit dem Impfen vorangeht als in Deutschland.

Hermann Schöberl leitet das Impfzentrum im oberbayerischen Erding. Er ist genervt von der ewigen Miesmacherei: Wieso könne man nicht einen anderen Blick auf die rasante Entwicklung der vergangenen Monate werfen, fragt der Internist. "Wie würde es sich anhören, dass sich - gegen alle Erwartungen - herausgestellt hat, dass der Impfstoff von Biontech wie von Moderna trotz der unglaublich kurzen Entwicklungszeit, der extremen produktionstechnischen Herausforderungen und der Testung an ,nur' 21 000 beziehungsweise 18 000 Probanden erstaunlich zuverlässig, hochwirksam und extrem gut verträglich ist", sagt Schöberl. "Wie kaum ein anderer neu auf den Markt gekommener Impfstoff zuvor." Das sei die Geschichte, die es zu erzählen gelte.

Wo ist das Haar in der Impfsuppe?

Aber statt Stolz und Freude über die Impfung zu empfinden, suchen viele Menschen das Haar in der Suppe. "Als im November 2020 die ersten Ergebnisse der Phase-3-Studie von Pfizer und Biontech herauskamen, war ich total beeindruckt von der unglaublichen wissenschaftlichen und logistischen Meisterleistung und der Schnelligkeit, mit der gearbeitet wurde", sagt Mario Gollwitzer, Sozialpsychologe an der Ludwig-Maximilians-Universität München. "Aber dass hier mit einem völlig neuen Wirkmechanismus Bahnbrechendes geleistet wurde, ging und geht bis heute unter in den Sorgen um Risiken, Nebenwirkungen und den Konflikten um die Impfstoffverteilung."

Ist dies ein deutsches Phänomen, dieses Zögern, Zaudern und Barmen? Gollwitzer glaubt nicht an solche Stereotype, sondern vermutet das psychologische Phänomen der Negativitätsverzerrung hinter der Haltung: "Negativen Informationen schenken wir mehr Aufmerksamkeit als positiven." Als zwei Engländer, die an schweren Allergien litten, sodass sie permanent einen Injektions-Pen gegen akute Symptome bei sich trugen, allergisch auf das Vakzin reagierten, machte die Nachricht schnell die Runde. Dass zu diesem Zeitpunkt Millionen Menschen mit geringen Nebenwirkungen geimpft worden waren, wurde hingegen kaum erwähnt; mittlerweile sind es weltweit 30 Millionen.

Die negative Grundhaltung überträgt sich auf andere Phänomene

Zudem beeinflusst der aktuelle emotionale Zustand, wie Informationen verarbeitet werden. Das Prinzip der "stimmungskongruenten Informationsverarbeitung" könne den abgedunkelten Blick erklären. "In positiver Stimmung ist man eher bereit, Risiken einzugehen - und in negativer Stimmung bestrebt, sogar kleine Risiken zu vermeiden", sagt Gollwitzer. "Und derzeit ist die generelle Stimmung angesichts der hohen Infektionszahlen und des Lockdowns schlecht, da haben es positive Botschaften schwer, durchzudringen." So sehr sich Gollwitzer als Wissenschaftler darüber ärgert, dass die Forschungs- und Entwicklungsleistung, die zur raschen Entwicklung der Impfung geführt hat, so wenig gewürdigt werde - aus psychologischer Sicht sei das verständlich.

Eine gewisse Geschichtsvergessenheit mag ebenfalls dazu beitragen. "Das gehört zum Fortschritts-Paradox", sagt der Bremer Gesundheitswissenschaftler Norbert Schmacke. "Die Diphtherietoten und Poliogelähmten sind aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden, dieser Erfolg der Impfungen wird wie selbstverständlich mitgenommen." Andererseits sei die teils heftige Debatte um die Masernimpfung ein Beleg dafür, dass die Grundsatzbedenken, die es in der Geschichte der Impfungen immer gegeben hat, nicht verschwunden sind. "Vermutlich können die meisten Menschen nicht einschätzen, was für ein Segen die superschnelle Entwicklung der Sars-CoV-2-Impfstoffe ist", sagt Schmacke. Studien zeigen zudem, dass Kritikern mehr Kompetenz zugesprochen wird als jenen, die das Positive betonen. Wer zweifelt, gilt als reflektierter.

Alles scheint möglich zu sein, wenn es wirklich sein muss

Und Zweifeln hat in Deutschland Tradition. "Positive Sichtweisen sind schwach ausgeprägt, es überwiegt die Nörgelei und das Motto: Nichts gesagt ist gelobt genug", sagt Sozialpsychologe Dieter Frey. Diese Mentalität sei aber auch verantwortlich dafür, dass Deutschland viele "hidden champions" habe, die erfolgreich sind, weil das Haar in der Suppe gesucht - und gefunden - wurde. "Die Welt spricht von deutschen Attributen. Dazu gehört zwar die German Angst, aber auch deutsche Perfektion, deutsche Ingenieurskunst und das analytische Denken, das auf ständige Verbesserung ausgerichtet ist."

Nun ist es ja ein hoffnungsvolles Zeichen, dass eine Gesellschaft notfalls innerhalb weniger Monate in der Lage ist, eine solche Forschungsgroßtat auf die Beine zu stellen. Doch die Rasanz überfordert manche Zeitgenossen. "Im Durchschnitt dauert das Testverfahren eines Impfstoffs acht bis zehn Jahre, bevor er zugelassen wird", konstatierte der unabhängige Arzneimittelbrief im November 2020. "Das Vertrauen in die Sicherheit von Impfstoffen ist von sehr großer Bedeutung, einerseits, weil damit Gesunde geimpft werden, und andererseits, weil in vielen Industrienationen eine irrationale Skepsis gegenüber Impfungen besteht."

Aber was war im Pandemie-Jahr 2020 schon durchschnittlich? Nie zuvor in der Geschichte der Medizin wurde mit so viel Aufwand eine Aufgabe angegangen. Firmen haben kooperiert, Wissenschaftler Erkenntnisse geteilt, Fachmagazine sie zugänglich gemacht. Ungeahnte Spätfolgen lassen sich in der Medizin nie ausschließen, aber die konzertierte Forschungsaktion erklärt vielleicht die Zumutung, sich so schnell auf Neues einstellen zu müssen. Eine typische Aussage jener, die unentschlossen sind, ob sie sich impfen lassen wollen, lautet: Ich warte ab, das geht mir zu schnell, normalerweise dauert so etwas Jahre.

Ob die Drohung mit einer Impfpflicht geeignet ist, solchen Zweifeln zu begegnen, ist mehr als fraglich. "Den Pflegenden, für die sich jahrelang niemand interessiert hat, mit der Impfpflicht zu kommen, ist bizarr", sagt Gesundheitswissenschaftler Schmacke. "Sie brauchen jede Unterstützung, auch in der Aufklärung. Kaum einer wird nach einer anstrengenden Schicht den Laptop aufklappen und die neueste Literatur über Nutzen und Risiken von Impfungen studieren."

Sozialpsychologe Frey bringt "Impfbotschafter" ins Gespräch, die in Schulen, Universitäten, Firmen und Verwaltungen erklären, warum man sich impfen lassen sollte, die Vorteile wie Kritisches benennen und vor allem darlegen: Ich trage Verantwortung, mich und andere zu schützen. "Man muss das Positive herausstellen. Ja, frühere Impfstoff-Herstellung dauerte und es hätte weitere fünf Jahre dauern können", sagt Frey. "Niemand konnte garantieren, dass man einen Impfstoff findet. Und jetzt ist es geschehen, eine Erfolgsgeschichte aus Deutschland." Dass angesichts der Komplexität des Themas nicht immer optimale Entscheidungen getroffen wurden, wer wolle darüber richten?

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