Gesundheit:Umstrittene Studie: Können Nahrungsergänzungsmittel Alzheimer verzögern?

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Schön wär's, wenn Nährstofftabletten den geistigen Verfall im Alter verhindern könnten. Doch dafür gibt es bislang keine brauchbaren Belege. (Foto: Yves Herman/REUTERS)

Nährstoffpräparate sollen den Abbau der Geisteskraft - und damit eine drohende Demenz - um zwei Jahre verzögern können. Unabhängige Fachleute bezweifeln das.

Geistigen Verfall im Alter fürchten wahrscheinlich die meisten Menschen. Fachleute gehen davon aus, dass in Deutschland gegen Mitte des Jahrhunderts 1,5 Millionen Menschen an Alzheimer-Demenz leiden werden. Kein Wunder also, wenn sich die geriatrische Psychiaterin Olivia Okereke von der Harvard Medical School überzeugt zeigt, dass die Ergebnisse einer Studie, an der sie mitgewirkt hat, unter Senioren auf große Aufmerksamkeit stoßen wird. Schließlich liefere diese Beweise dafür, dass Vitaminpräparate ein "besseres kognitives Altern" unterstützen könnten, wie es in einer Pressemitteilung heißt. Der Studie zufolge könnten Nahrungsergänzungsmittel den Abbau der geistigen Leistungsfähigkeit um zwei Jahre verzögern.

Auch Fachleute horchen bei dem Ergebnis auf - vor allem, weil frühere Studien keinen Schutzeffekt durch Nahrungsergänzung gefunden haben, egal ob es sich um Multivitaminpräparate, Mineralstoffe oder eine Kombination von beidem handelte. So fand eine Analyse von acht Studien 2018 keinen Hinweis darauf, dass solche Präparate eine Demenz verzögern könnten. Das berichtete damals ein Team um Naji Tabet von der Brighton and Sussex Medical School in der Cochrane Database of Systematic Reviews.

"Bisher war alles negativ", sagt auch der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN), Lars Timmermann, der am Universitätsklinikum Marburg die Klinik für Neurologie leitet. "Für eine Wirksamkeit solcher Präparate gab es keine Evidenz." Das betont auch Dorothee Volkert von der Universität Erlangen-Nürnberg. "Es gab sehr viele Supplementierungsstudien mit den unterschiedlichsten Nährstoffen und Nährstoffkombinationen", sagt die Professorin für klinische Ernährung im Alter. "Alle Ergebnisse waren enttäuschend. Warum ausgerechnet hier ein Effekt gefunden wurde, ist schwer zu sagen."

"Es ist eine interessante Beobachtung, aber nicht mehr."

In der aktuellen Untersuchung - der sogenannten Cosmos-Studie (Cocoa Supplement and Multivitamin Outcomes Study) - bekamen mehr als 21 000 Teilnehmende im Alter ab 60 Jahren entweder Scheinpräparate oder Pillen, die Mikronährstoffe wie Vitamine enthielten. Im Laufe von zwei Jahren absolvierten knapp 500 von ihnen kognitive Tests. Am Ende fand das Team bei jenen Menschen, die zusätzlich Multivitamin erhalten hatten, einen etwas geringeren Abbau des sogenannten episodischen Gedächtnisses. Es speichert Erinnerungen aus dem eigenen Leben wie Verabredungen. "Dieser Teil des Gedächtnisses ist in hohem Maße alltagsrelevant", sagt Timmermann. Andere kognitive Fähigkeiten wie die Aufmerksamkeit profitierten nicht, wie das Team um Olivia Okereke im American Journal of Clinical Nutrition schreibt. Dennoch heißt es in dem Aufsatz: Der Effekt entspreche etwa einer um zwei Jahre verzögerten kognitiven Alterung.

Damit sei dies nun die dritte Untersuchung, die einen Nutzen von Nahrungsergänzungsmitteln zum Schutz vor Demenz belege, betont das Team. Bei den beiden anderen Untersuchungen handelt es sich allerdings ebenfalls um Teile der Cosmos-Studie. Finanziert wurde diese unter anderem vom Nahrungsmittelkonzern Mars Incorporated - der unter anderem Nahrungsergänzungsmittel aus Kakaoextrakten vertreibt, wie sie auch in der Cosmos-Studie untersucht werden.

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In den zwei anderen Teilarmen wurden jeweils mehr als 2000 Menschen entweder online (Cosmos-Web) oder per Telefon (Cosmos-Mind) zu ihrer Entwicklung befragt - mit tendenziell ähnlichen Resultaten. Das Besondere an der nun vorgestellten Cosmos-Clinic-Studie ist, dass sie auf klinischen Tests beruht, nicht auf wenig belastbaren Befragungen per Internet oder Telefon.

Die Auswertung von insgesamt mehr als 5000 Personen in den drei Studienteilen belege klar, dass Gedächtnis und Geisteskraft von Nahrungsergänzungsmitteln profitieren könnten, betont die Gruppe. "Die Metaanalyse von drei getrennten Studien bietet starke und einheitliche Belege dafür, dass tägliches Multivitamin, bestehend aus mehr als 20 essenziellen Mikronährstoffen, dazu beiträgt, Gedächtnisverlust zu behindern und kognitiven Niedergang zu bremsen", wird Erstautor Chirag Vyas von der Harvard Medical School in einer Mitteilung seiner Hochschule zitiert.

René Thyrian vom Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen in Greifswald begegnet dieser Aussage mit Skepsis: "In der Studie wurde zwar ein statistisch signifikanter Effekt gefunden", sagt der Demenz-Experte. "Aber es ist fraglich, ob das für die Betroffenen eine Bedeutung im Alltag hat." Insbesondere die Behauptung, der Effekt entspreche einer Bremsung um zwei Jahre, befremdet Thyrian: "Das wird meiner Meinung nach nicht durch die Daten gestützt."

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Auch Lars Timmermann ist skeptisch: "Die Testverfahren waren zwar ordentlich", sagt der DGN-Präsident, "aber die Teilnehmerzahl war sehr niedrig, um solche milden Effekte festzustellen." Die Ursache für die festgestellte Wirkung sei unklar. "Es ist eine interessante Beobachtung, aber nicht mehr." Auch Ernährungsexpertin Dorothee Volkert würde nach diesem Resultat nicht zur Einnahme von Multivitaminpräparaten raten: "Aufgrund einer einzelnen Studie würde ich das nicht empfehlen."

Das Resultat sei plausibel, gibt sich dagegen die Gruppe um Vyas überzeugt. Ein Mangel an Nährstoffen könne bei Senioren das Risiko für kognitiven Verlust erhöhen, umgekehrt könnten diese dagegen von Kombinationen aus Vitaminen und Mineralstoffen profitieren. Ganz so eindeutig interpretieren unbeteiligte Forschende die Ergebnisse jedoch nicht. Immerhin: Auch wenn die genauen Zusammenhänge bei der Entstehung von Alzheimer, der mit Abstand häufigsten Demenzform, nicht abschließend geklärt sind, können Menschen ihr individuelles Risiko minimieren, wie Thyrian betont: ausgewogene Ernährung, wenig Alkohol, nicht rauchen, sich bewegen und einen etwaigen Bluthochdruck einstellen lassen. Und Hörverlust solle man durch ein Hörgerät ausgleichen - nicht nur, um soziale Isolation zu vermeiden, sondern auch, um akustische Reize aus der Umgebung registrieren zu können.

Lars Timmermann betont ebenfalls: "Wenn wir mehr für die Prävention täten, könnten wir 40 Prozent der Demenzfälle verzögern." Auch er plädiert dafür, sich ausgewogen zu ernähren, sich zu bewegen und Risikofaktoren zu kontrollieren. Im Falle von Anzeichen für eine Demenz solle man stets neurologisch abklären, ob es dafür eine behandelbare Ursache gebe, sagt er und verweist als Beispiele auf Borreliose oder Schilddrüsenprobleme. Von einer Einnahme von Nahrungsergänzungsmitteln auf eigene Faust rät der Experte ab. Vorher solle man mit dem Hausarzt klären, ob tatsächlich ein Nährstoffmangel vorliegt. "Mit zu viel Vitamin muss man sehr aufpassen", betont Timmermann. "Damit kann man sich erheblichen Schaden zufügen."

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