Alkohol in der Schwangerschaft:Die tiefen Spuren des Trinkens

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SANTE-ALCOOL-FEMMES

Ungefähr 30 Prozent aller Frauen trinken während der Schwangerschaft Alkohol. Eine Mindestdosis, die als unschädlich gelten kann, gibt es nicht.

(Foto: Philippe Huguen/AFP)

Es muss kein Vollrausch sein: Trinken Frauen in der Schwangerschaft, können ihre Kinder schwer geschädigt werden. Das Problem kommt in allen gesellschaftlichen Schichten vor - und wird selbst von Fachleuten übersehen.

Von Werner Bartens

Wenn Victor um 17 Uhr nach Hause gebracht wird, klingelt er, ihm wird aufgemacht, und sofort verschwindet er in seinem Zimmer. Immer das gleiche Ritual, Hunderte Male geübt. Sitzt die Familie im Sommer allerdings auf der Terrasse und hört die Klingel nicht, kann Victor nicht um das Haus gehen, das ist für ihn unvorstellbar. Er steht dann unschlüssig vor der Tür, weiß nicht weiter und wird wütend. Die Veränderung überfordert ihn. "Jede Abweichung bringt ihn in ein Unvermögen", sagt die Mutter. "Ist etwas anders als sonst, ist er irritiert und kommt durcheinander."

Victor ist 14 Jahre alt und leidet am Fetalen Alkoholsyndrom (FAS). Seine leibliche Mutter hat während der Schwangerschaft getrunken, schon bald nach der Geburt kam er in ein Pflegeheim. Im Alter von zehn Monaten wurde er adoptiert. Obwohl er seit mehr als 13 Jahren in seiner neuen Familie lebt, ist er regelmäßig vom Alltag überfordert. Und die Familie ist häufig überfordert von Victor, der ja nichts dafür kann, aber eben so ist, wie er ist.

Manchmal sitzt Victor morgens nach dem Aufstehen auf dem Bett, hält eine Socke in der Hand, weiß aber nicht mehr, was er damit tun wollte. Bis er angezogen ist, kann es schon mal eine halbe Stunde dauern oder länger. Die Zeit reicht nicht immer, sodass Victor, trotz der eineinhalb Stunden, die sich die Familie täglich für Aufstehen, Frühstück, Morgenwäsche nimmt, manchmal nicht rechtzeitig in die Förderschule kommt. Zum Frühstück isst Victor ausschließlich Grießnockerlsuppe. "Bekommt er die nicht, flippt er aus", sagt die Mutter.

Schätzungen zufolge werden in Deutschland jedes Jahr bis zu 4000 Kinder geboren, die durch Alkohol in der Schwangerschaft so schwer geschädigt werden, dass ein Fetales Alkoholsyndrom vorliegt. Die genauen Zahlen sind ungewiss, da die Krankheit häufig nicht erkannt wird.

"So viele Kinder mit FAS werden überhaupt nicht diagnostiziert", sagt Mirjam Landgraf, die im Sozialpädiatrischen Zentrum des Haunerschen Kinderspitals München eine Spezialambulanz für Kinder leitet, die in der Schwangerschaft Giftstoffen ausgesetzt waren. "Dabei trinken ungefähr 30 Prozent aller Frauen während der Schwangerschaft Alkohol - manche wenig oder wenn, dann nur ein bisschen, andere bis zum Vollrausch."

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