SZ-Serie Wohnungssuche: Rio de Janeiro:Affen und Aussichten

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Atemberaubender Blick auf Rio. Wer dort hinziehen will, sollte sich mit den Gepflogenheiten vertraut machen. (Foto: Yasuyoshi Chiba/AFP)

In Rio de Janeiro sind viele Wohnungen laut, baufällig und das Zuhause von Riesenraupen. Dafür gibt es oft mehr Waschbecken als Bewohner, mehr Zimmer als gedacht und fantastische Ausblicke.

Von Boris Herrmann

Wenn man wissen will, wie sich ein Außerirdischer auf Erden fühlt, dann muss man sich in die U-Bahn von Rio de Janeiro setzen und eine gedruckte Zeitung lesen. Fast mitleidig wird man dann von den anderen Fahrgästen begutachtet. Hat der arme Mann aus dem fremden Land denn kein Handy?, fragen die Blicke.

Deutschland ist immer noch ein analoges Land, jedenfalls im Vergleich zu Brasilien. In Rio chatten die Ärzte per Whatsapp - während der Behandlung. Die Taxifahrer schauen Telenovelas - während der Fahrt. Und sogar die Eliteschulen erlauben ihren Schülern, die Tafel abzufotografieren, anstatt den Lernstoff mühsam in ein Heft zu schreiben. Fast nichts geht mehr auf Papier. Es sei denn, man sucht eine Wohnung.

Rios größte Zeitung O Globo erscheint immer noch jeden Tag mit einem Kleinanzeigenteil. Wahrscheinlich, weil diese Seiten wenigstens gelesen werden. Mittwochs und sonntags ist die Immobiliensparte besonders dick. Das sind die besten Tage, um auf Wohnungssuche zu gehen. Eine typische Anzeige liest sich so: "Botafogo, zwei Zimmer, 120 Quadratmeter, exzellente Lage, fantastische Sicht, 24 Stunden bewacht, Stellplatz, 6600 Reais." Die brasilianische Währung hat zuletzt dramatisch an Wert verloren. Nach aktuellem Kurs entsprechen 6600 Reais etwa 1500 Euro. 120 Quadratmeter in Rios postkartentauglicher Südzone, das klingt nach einem Schnäppchen.

Obwohl Brasilien in einer schweren Wirtschaftskrise steckt und auch die Mietpreise zuletzt ein wenig gesunken sind, gilt der Wohnungsmarkt in Rio de Janeiro immer noch als extrem angespannt. Natürlich haben die Fußball-WM 2014 und die anstehenden Olympischen Spiele im kommenden Jahr ihren Teil dazu beigetragen. Gemessen daran lesen sich viele Wohnungsangebote, die man bei O Globo findet, erstaunlich nett und schnäppchenhaft. Die Probleme beginnen bei der Besichtigung. Nicht selten steht man dann mit seiner ausgeschnippelten Zeitungsannonce in einer baufälligen Baracke und hofft, man habe sich in der Tür geirrt.

"Wird denn der Schimmel vor dem Einzug noch aus der Küche entfernt?" - "Die Wohnung ist so wie sie ist zu vermieten", das wäre eine klassische Makler-Antwort. "Mit Schimmel für 6600 Reais?" - "Wegen der kleinen Tücken ist sie ja so billig."

Die kleinen Tücken, das kann zum Beispiel auch der Klappermotor des Hausaufzugs direkt neben dem Schlafzimmer sein. Oder ein, zwei zerbrochene Wohnzimmerscheiben. Gerne auch ein Badezimmer, das den Charme sowie den Geruch des frühen zwanzigsten Jahrhunderts versprüht. Rio war bis 1960 die Hauptstadt Brasiliens. Vielen Wohnungen sieht man noch an, dass seither nicht mehr viel in diese Stadt investiert wurde. Das beginnt gerade erst wieder, wegen der WM und Olympia.

Eingänge für Dienstboten und kleine Küchen sind das Erbe der Kolonialzeit

Man lebt in Rios Südzone vor allem in Hochhäusern. Deshalb ist es selten geschwindelt, wenn Wohnungen mit "fantastischer Sicht" angepriesen werden. Es gibt in dieser Stadt, die zweifellos zu den schönsten der Welt zählt, unzählige fantastische Ausblicke, auf Berge oder Meer, nicht selten auf beides. Es ist aber nicht unbedingt gesagt, dass man diese Sicht auch mit offenem Fester genießen kann. Entlang der großen Verkehrsachsen ist der Lärm zumindest nach europäischen Maßstäben schwer erträglich. Das hört sich oft an, als würde eine vierspurige Autobahn direkt durchs Wohnzimmer führen. Zur Verteidigung dieser Mietobjekte ist zu sagen, dass die Brasilianer definitiv zum lärmresistenteren Teil der Menschheit gehören. Außerdem öffnen sie ohnehin selten die Fenster, weil sie die Kühlschrank-Atmosphäre ihrer Klimaanlagen so lieben.

Brasilianer sind in der Regel auch sehr tierlieb. Sie halten sich vorzugsweise Hunde, Katzen und Schildkröten - zusätzlich zu den großen Wildtierbeständen, die es ohnehin in vielen Wohnungen gibt. Das können beispielsweise Riesenameisen, Miniameisen, Riesenraupen, Minimoskitos, Opossums, Kakerlaken, Äffchen oder seltene, tropische Wurmsorten sein. Manchmal flattert auch einfach nur ein reizender Kolibri zur Tür herein. Grundsätzlich gilt: Rio lebt. In manchen Wohnungen ein bisschen mehr, in manchen ein bisschen weniger.

Die Überraschungen auf dem Mietmarkt müssen aber nicht immer unangenehm sein. Wenn in einer Anzeige von zwei Zimmern die Rede ist, dann hat die Wohnung mindestens drei Zimmer. Gezählt werden nur die Schlafräume. Großflächige Wohn- und Esszimmer kommen dann oft noch dazu. Erstaunlich ist auch die hohe Bäder-Dichte. Es gibt nicht wenige Vierzimmer-Apartments (also mit fünf bis sechs Räumen), die vier Badezimmer haben. Mehr Waschbecken als Bewohner, wozu auch immer.

In klassisch geschnittenen Wohnungen gibt es auch mindestens zwei Eingänge, einen für die Hausherren, einen für das Dienstpersonal. Zu jener Zeit, als die großen Wohnkomplexe in den Stadtteilen Botafogo, Flamengo, Laranjeiras, Copacabana und Ipanema entstanden, hatte in Rio noch nahezu jede Mittel- und Oberschichtfamilie feste Hausangestellte. Die traten nicht nur durch die Dienstpersonaltür ein, sie mussten auch den Dienstpersonal-Aufzug nehmen. Das vordergründig so weltoffene Brasilien hat 1888 als eines der letzten Länder der Welt die Sklaverei abgeschafft und die Kultur der unterbezahlten und größtenteils dunkelhäutigen Hausangestellten ("Empregadas") war bis in die jüngere Vergangenheit ein weitgehend unangetastetes Überbleibsel der Kolonialzeit. Erst 2013 hat der Senat in Brasília deren Arbeitsrechte verbessert. Das erklärt auch, weshalb die Küchen brasilianischer Wohnungen oft winzig und düster sind. Da sind die Hausherren früher nicht reingegangen.

Mieter brauchen einen Bürgen. Einen zu finden, ist aber nicht so einfach - und oft teuer

Richtig kompliziert wird die Wohnungssuche in Rio aber erst dann, wenn man sich für das persönlich bevorzugte Maß an Preis, Ausblick, Zuschnitt, Lärm und Tierwelt entschieden hat - wenn man also ein Objekt gefunden hat, das man tatsächlich mieten möchte. Dann bekommt man es mit der zu Recht berüchtigten brasilianischen Bürokratie zu tun. Ohne CPF geht schon mal gar nichts. Das Kürzel (gesprochen: Sepeäffi) steht für Cadastro de Pessoas Físicas, für die Steuernummer. Fast jeder Brasilianer kann seine elfstellige Sepeäffi auswendig, man braucht sie praktische täglich, sie begleitet einen von der Geburt bis zum Tod. Wer aber aus dem Ausland nach Rio zieht und auf einen festen Wohnsitz Wert legt, der sollte seine Steuernummer am besten ein paar Monate vorher beantragen.

Das zweite Wort, das niemand vergisst, der schon einmal in dieser Stadt eine Wohnung besichtigt hat, lautet "Fiador". Damit ist ein Mietvertrags-Bürge gemeint, auf den fast alle Vermieter bestehen. Er muss einen festen Wohnsitz in Rio haben und haftet im Zweifelsfall mit seinem kompletten Vermögen. Da solche Menschen schwer zu finden sind, bieten einige Banken den Service an, als Fiador einzuspringen - gegen eine stattliche Gebühr, versteht sich. Als Faustregel gilt: Eine Monatsmiete pro Jahr. Es handelt sich dabei nicht etwa um eine Kaution, das Geld ist weg, egal, in welchem Zustand man die Wohnung am Ende zurückgibt.

Es lohnt sich ohnehin, das Ende gleich am Anfang mitzudenken. Brasilianische Mietverträge laufen in der Regel 30 Monate und können in dieser Zeit nur gegen eine saftige Strafgebühr gekündigt werden. Wenn man für eine Wohnung unterschreibt, sollte man schon einigermaßen sicher sein, dass man es dort zweieinhalb Jahre aushält. Nicht nur mit dem Blick auf Berg und Strand, sondern auch mit der Fünfzigerjahre-Dusche und den Riesenameisen.

Die SZ berichtet in dieser Serie in loser Folge über den Wohnungsmarkt in den wichtigen Metropolen der Welt. Bisher erschienen: Madrid (23.10.) und Peking (30.10.)

© SZ vom 06.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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