Heinz Zimmermann:"Das Opfer der Zukunft ist der Steuerzahler"

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Braucht die Welt so viel Finanzindustrie? Der Altmeister der Finanzmärkte, der Professor Heinz Zimmermann, über Margen, Risiken und die Börse.

Hans von der Hagen

Die Finanzindustrie gehört zu den innovationsfreudigsten Branchen. Eine schier unübersehbare Zahl von Produkten wird von Physikern, Mathematikern und Kaufleuten entwickelt. Vor der Finanzkrise dachten Banker, mit diesen Produkten könnte das Unmögliche möglich gemacht werden: Mehr Ertrag bei weniger Risiko. Eine absurde Idee - doch der Irrglaube hat die Finanzkrise überhaupt erst möglich gemacht. Es stellt sich die Frage: Braucht die Welt so viel Finanzindustrie? Und: Was ist die nächste große Bedrohung? Ein Interview mit dem Basler Professor für Finanzmarkttheorie, Heinz Zimmermann. Er hat viele Banken beraten und brachte 1987 das erste deutschsprachige Buch über die Preisbildung von Optionen auf den Markt. Die Optionen bildeten die Grundlage für den Boom der Finanzprodukte.

Es ist mit den Finanzinnovation wie mit Krawatten: Farbe, Muster und auch die Form ändern sich leicht - aber am Schluss ist es immer nur eine Krawatte. (Foto: Foto: dpa, ddp, AP)

sueddeutsche.de: Die Wirtschaftskrise hat gezeigt, wie mächtig der Finanzsektor geworden ist. Braucht die Welt so viel Finanzindustrie?

Heinz Zimmermann: Es weiß keiner so genau. Fest steht aber, dass die vielen Prozesse und Finanzprodukte den Markt völlig undurchsichtig gemacht haben. Das ist gefährlich.

sueddeutsche.de: Immerhin könnte sich die Bankindustrie selbst dafür beglückwünschen, dass sie ein so undurchdringliches Gestrüpp geschaffen hat. Gerade jetzt in der Griechenland-Krise wird die Kreditwirtschaft handgestreichelt, weil alle fürchten, irgendwo eine Kettenreaktion auszulösen ...

Zimmermann: Die Branche hat keinerlei Anlass, sich zu beglückwünschen. Ihr ist in den vergangenen Jahren vieles missglückt.

sueddeutsche.de: Paul Volcker, der frühere Chef der US-Notenbank Fed, ätzte vor einiger Zeit, die einzig sinnvolle Finanzinnovation in den letzten 20 Jahren sei der Geldautomat.

Zimmermann: Es gibt schon einige bedeutende Finanzinnovationen. Bankkunden können sich gegen schwankende Zinsen bei Hypotheken oder gegen fallende Aktienkurse absichern oder Unternehmen etwa gegen Preiserhöhungen bei Rohstoffen. Auch sind viele Prozesse vereinfacht und verbessert worden. Aber bei den Produkten für private Kunden wiederholt sich vieles. Es ist wie bei den Krawatten: Farbe, Muster und auch die Form ändern sich leicht - aber am Schluss ist es immer nur eine Krawatte. Viele neue Finanzinnovationen haben die Banken nur unter sich gehandelt.

sueddeutsche.de: Die Branche beschäftigt sich also überwiegend mit sich selbst?

Zimmermann: Ja - weil die Margen auf viele Produkte hoch sind. Viele denken, die Banken machten ihr Geld vor allem an der Börse. Aber richtig spannend wird es für die Banken erst abseits der Börse. Dort können die ersten Adressen der Branche ihre - zumindest bis vor der Krise - guten Ratings kapitalisieren. Die hohen Margen, die dort erzielt werden, versüßen ihnen das Leben. Die hohe Intransparenz der Produkte und der Deckmantel des Neuen kommt da manchmal auch gerade recht: Beides hilft beim Geldverdienen.

sueddeutsche.de: Waren die Banken zu dumm, um bestimmte Risiken zu erkennen? Oder zu faul, sich um die Risiken zu kümmern?

Zimmermann: Ich hoffe doch, dass die Produkte bei den Banken und Versicherungen noch einigermaßen verstanden wurden. Ich glaube aber, dass viele Produkte schlecht strukturiert waren. Ein Produkt ist nicht allein schlecht, weil es kompliziert ist. Es muss nur wie im Verkehr sein: Ein unbedarfter Fahrer sollte auch ein kompliziertes Auto möglichst gefahrenfrei lenken können.

sueddeutsche.de: Aber am Rennwagen, so muss man wohl viele Finanzprodukte bezeichnen, scheitern sie dann doch ...

Das Schweizer Wirtschaftsmagazin Bilanz kürte ihn Mitte der neunziger Jahre zum "Herrn der Derivate": Heinz Zimmermann. (Foto: Foto: oH)

Zimmermann: Nicht, wenn sie vorsichtig fahren. Aber darin liegt das große Problem bei den Banken: Verschiedene Risiken wurden nicht ernst genommen oder gerieten in Vergessenheit, weil viele Banker sie nicht mehr am eigenen Leib erfahren haben. Dass eine Gegenpartei am Markt, also der Geschäftspartner, ausfallen könnte, galt vielen als unvorstellbar. Ebenso das Risiko, dass ein Markt völlig eintrocknen könnte.

sueddeutsche.de: Hatten das die Mathematiker in ihren Modellen vergessen?

Zimmermann: Die Statistik und Finanzmarkttheorie hat viele schöne Instrumente entwickelt, doch es kamen stets jene Risiken zu kurz, die sich nicht so einfach in eine Formel fassen ließen.

sueddeutsche.de: Nie fühlten sich viele Banken so sicher wie vor der Krise, die Risiken waren in die weite Welt gestreut worden. Ganz nach Lehrbuch. Und dann brach alles zusammen. War das System falsch konfiguriert worden?

Zimmermann: Schon der Dramatiker Friedrich Dürrenmatt sagte, dass je planmäßiger man versuche, gegen den Zufall vorzugehen, desto wirksamer er einen zu treffen vermöge. Je besser man also versucht, die Risiken in den Griff zu bekommen, umso mehr schlagen sie auf einer anderen Ebene zurück. Es ist vielleicht ein allzu menschliches Prinzip, was sich hier geäußert hat.

sueddeutsche.de: Ist das die Bankrotterklärung des Risikomanagements?

Zimmermann: Sicher nicht - es sollte einem einfach die engen Grenzen beim Management von Risiken aufzeigen. Wenn man die Risiken an der einen Stelle in den Griff bekommt, entstehen neue an einem anderen Ort. Darum müssen Risiken noch vielschichtiger und interdisziplinärer angegangen werden.

sueddeutsche.de: Das ist vor der Finanzkrise nicht passiert?

Zimmermann: Offenbar nicht. Ein Beispiel dafür bieten die Kreditrisiken, also jene Risiken, die für das Bankgeschäft schon immer von existenzieller Bedeutung waren. Sollten nicht gerade mit den Basel-II-Vorschriften die Kreditrisiken differenzierter erfasst und Anreize geschaffen werden, diese besser zu überwachen? Es ist eine Ironie des Schicksals, dass gerade aus den Kreditrisiken nun jene Risiken geworden sind, die maßgeblich für die Finanzkrise verantwortlich sind - und die jetzt, wie im Fall von Griechenland, sogar auf staatlicher Ebene Schrecken verbreiten.

sueddeutsche.de: Viele Finanzinstrumente wurden zunächst zur Absicherung von Geschäften entwickelt, bald aber auch zur Spekulation genutzt. War das zu viel für den Markt?

Zimmermann: In der Regel braucht es beides, denn auf dem Finanzmarkt müssen viele gegensätzliche Interessen in Einklang gebracht werden. Im einfachsten Fall sähe das so aus: Der Anbieter von Weizen will sich gegen fallende Preise absichern, ein Bäcker gegen steigende Weizenpreise. Hier würde der Markt im Idealfall ohne Spekulation auskommen. Doch eine solche Situation ist selten. Viel schwieriger ist es, wenn sich viele Akteure gegen das gleiche Risiko in gleicher Richtung absichern: So wollen sich beispielsweise Banken, Versicherungen und Privatleute meistens gleichermaßen gegen steigende Zinsen schützen.

sueddeutsche.de: Die Gegenseite fehlt ...

Zimmermann: Darin liegt die ökonomische Funktion der Spekulation, und viele Innovationen wären eigentlich dazu da, diesen Prozess zu koordinieren. In der Finanzkrise war es allerdings nicht das Problem, dass Spekulanten fehlten - sondern dass sie zu wenig Kapital, zu wenig Liquidität und möglicherweise auch zu wenig Know-how hatten. Darüber hinaus erfolgte der Prozess außerhalb geordneter Finanzmärkte.

sueddeutsche.de: Wenn vor der Finanzkrise die Banken gezwungen worden wären, ihre Geschäft über die Börse abzuwickeln, wäre alles anders gekommen?

Zimmermann: Zumindest scheint ein System, bei dem Risiken über Börsen gehandelt werden, wesentlich stabiler zu sein, als wenn diese Risiken direkt zwischen Brokern oder Hedgefonds gehandelt werden. Die Börse kann das Verhalten der Markteilnehmer besser koordinieren. Abseits der Börse kommt es schnell zu einem Stau - wie auf einer Autobahn: Das Verhalten der Verkehrsteilnehmer ist in einem solchen Moment schlecht koordiniert. Da bremst einer vor mir, weil der andere vor ihm auch bremst. Aber keiner weiß, warum eigentlich alle bremsen. Ökonomen sprechen dabei von einer Situation unvollständiger Informationen - und die können einen Stau auf das ganze System übertragen. Auch das Finanzsystem hat im Grunde sehr enge Kapazitäten - wie eine Autobahn.

sueddeutsche.de: Aber an der Börse bremsen auch viele, ohne dass sie wissen warum. Oder geben einfach mal Gas ...

Zimmermann: Allerdings werden die Risiken im Falle von Derivatbörsen durch ein dichtes Sicherheitsnetz an vorgängigen Zahlungen reduziert. Diese sogenannten Margen werden laufend an die Bewertung der Risikopositionen angepasst und erhöht, wenn die Kurse stärker schwanken als erwartet. Damit sichert sich die Börse dagegen ab, dass der Anleger seinen Verpflichtungen nicht nachkommen kann.

sueddeutsche.de: Schon in den neunziger Jahren warnten Wissenschaftler, dass die Flut an Finanzinnovationen den Markt kollabieren lassen könnte. Was hat dieses Wissen gebracht?

Zimmermann: Nichts! Es reicht nicht, Probleme mathematisch zu erfassen - es müssen auch institutionell Sicherheitsvorkehrungen getroffen werden. Doch wenn die Märkte gut laufen und die Banken viel verdienen, gibt es keine Verbesserungen. Das ist das Grundproblem der Finanzmärkte. Insofern hat die Branche es nicht zuletzt auch ihrem Erfolg zu verdanken, dass sie jetzt in diesen enormen Problemen steckt.

sueddeutsche.de: Wo liegt die nächste große Bedrohung für die Märkte?

Zimmermann: Offensichtlich bei den Staatsschulden: Nach der Übertragung der immensen privaten Verschuldung auf das Finanzsystem sind durch die staatlichen Rettungsmaßnahmen jetzt massive öffentliche Schulden entstanden. Zur Verhinderung eines Flächenbrandes müssen sich Finanzindustrie und Politik nun dringend überlegen, ob und gegebenenfalls wie Schulden eines Staates auf die Staatengemeinschaft transferiert werden sollen - etwa über Institutionen wie den Internationalen Währungsfonds. Oder wie ein Krisenfonds zum Schutz der Finanzinstitute, welche viele dieser Forderungen halten, finanziert werden könnte. Die Zahl der Innovationen wird sich zurückbilden.

sueddeutsche.de: Was bedeutet das für den Steuerzahler?

Zimmermann: Er wird das große Opfer der nächsten Jahrzehnte sein. Er wird für alles zahlen - in Form höherer Steuern oder mit einer höheren Inflationsrate.

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