Architektur:Klare Signale für die Sinne

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Barrierefreiheit in öffentlichen Räumen geht über Aufzüge hinaus. Auch optische Gestaltung und Akustik sind wichtig. Vorzeigebeispiel ist eine Schule am Münchner Petuelpark.

Von Oliver Herwig

Die Tür schwingt auf, und es saugt einen förmlich hinein in das Rund. 47 Meter Durchmesser hat das Atrium der neuen Grund- und Hauptschule der Münchner Ernst-Barlach-Schulen GmbH, die von der Stiftung Pfennigparade am Petuelpark betrieben werden. In der Schule ist Barrierefreiheit Pflicht. Denn von den circa 150 Schülern sind mehr als die Hälfte körperbehindert, viele davon im Rollstuhl unterwegs oder mit dem Rollator. Im Atrium wartet daher ein Fahrstuhl mit gleich zwei Kabinen, jede groß genug für eine halbe Schulklasse. Ein besonderes Erlebnis bietet die breite Rampe, die sich wie eine Passstraße in Kehren nach oben windet. Dieses Haus ist anders, das spürt man sofort. Nicht nur, weil hier ungefähr 30 Schüler mit Migrationshintergrund unterrichtet werden, sondern weil das Konzept der Ernst-Barlach-Schulen darauf abzielt, Menschen zusammenzuführen - in diesem Fall sollen Behinderte und Nichtbehinderte soziales Miteinander erlernen.

Als "Schule in Bewegung", wie sie es nennen, legte das Münchner Architektenbüro Bauer Kurz Stockburger & Partner das im Februar 2013 eröffnete Bauwerk an. Die Rampenanlage reicht vom kleinen unterirdischen Busbahnhof mit seinen Fahrdiensten bis in den dritten Stock. Wo sich sonst in langen Fluren Klassenzimmer an Klassenzimmer reiht, besticht das Haus durch breite Galerien, die an ein Theater erinnern. Diese zum Atrium offenen Spiel-, Lern- und Aufenthaltsbereiche sind ideal für Einzelstunden, aber auch für Gruppenunterricht.

Inklusion ist hier mehr als ein Wort. Doch was muss sich tun in Richtung barrierefreie Gesellschaft? Schulleiterin Kerstin Krönner: "In den Köpfen und Herzen der Menschen muss die Bereitschaft entstehen, mit Anderssein und Besonderssein offen umzugehen." Alles andere erwachse daraus. Krönner wollte daher, dass Rollstuhlfahrer ihre Schule in Notfällen selbständig verlassen können. Was so normal klingt, ist oft ein Problem, da Rollstuhlfahrer auf Rettungskräfte warten müssen.

Die Münchner Architekten David Reichert und Alexander Bauer erfüllten diese Forderung durch ihr offenes Raumkonzept. Fluchtbalkone an der Fassade verbinden die Klassenzimmer. Sie sorgen dafür, dass alle Schüler sofort wissen, wo sie das Gebäude verlassen können. Sie genieße "die helle und offene Gestaltung" des Hauses, sagt Krönner. Für die Schulleiterin geht Barrierefreiheit weit über Aufzüge oder Rampen hinaus. Dazu gehört für sie eine klare Orientierung im Raum. Und gute Akustik. Da das Budget für die Gestaltung der Schule knapp war, entwickelten die Architekten runde Akustikelemente und schraubten sie unter die Decke. Die bunten Scheiben schlucken störenden Schall und sehen auch noch gut aus.

Hören ist der wohl sensibelste Bereich, wenn es um Barrierefreiheit geht. Schließlich gibt es genügend Situationen, bei denen ungestörte, ja private Kommunikation unerlässlich ist: An der Arzttheke, wenn sich Patienten anmelden und von ihren Krankheiten berichten oder am Bankschalter, wenn es um Geldanlagen oder gar um Kredite geht. Oft sind es geringe Investitionen, die das Verstehen erleichtern, etwa eine Induktionsschleifen-Anlage, die Töne in elektromagnetische Schwingungen übersetzt und drahtlos an Hörgeräte überträgt. Einzige Voraussetzung: Das Hörgerät muss eine sogenannte Telefonspule (T-Spule) besitzen. Man stellt auf T-Position und ist mitten im Leben.

Ämter, Schulen und Museen stehen vor einem gewaltigen Investitionsprogramm, wenn es gilt, den öffentlichen Raum für alle gleichermaßen zu erschließen. Denn Barrierefreiheit entsteht als Summe vieler Einzelaspekte: klare Orientierung, gute Akustik und schwellenfreie Erschließung bilden eine Einheit. Erste ermutigende Beispiele zeigen, wie das abstrakte Formelwerk der DIN-Vorschriften in gute Architektur münden kann. Da wäre das "Haus zur Wildnis" in Lindberg im Bayerischen Wald mit seinen Rampen im Foyer, der Hörsaal der Philosophischen Fakultät II der Universität Würzburg am Wittelsbacher Platz mit seinen deutlichen Stufenmarkierungen oder das taktile Leitsystem Zentrum Bayern Familie und Soziales (ZBFS) Oberfranken in Bayreuth.

Noch etwas komplexer sind Bahnhöfe und Busbahnhöfe. Hier muss alles stimmen: Akustik und Optik, Bodenbeläge und Informationssysteme. Augenblicklich werden in Bayern 26 besonders stark frequentierte Bahnhöfe barrierefrei ausgebaut, darunter der Passauer für circa 21,5 Millionen Euro. Geplant sind unter anderem moderne Signalanlagen, neues Pflaster, eine verbesserte Beleuchtung, zeitgemäße Lautsprecher, ein in den Belag integriertes Blindenleitsystem, Aufzüge und eine neue Unterführung. Ein Beispiel für einen modernisierten Verkehrsknotenpunkt ist der Bahnhof München-Pasing. Heller und freundlicher ist er geworden. Wo sich jahrelang Reisende über endlose Treppen zu den Zügen quälten, erschließen nun Fahrstühle die Gleise. Hier finden alle zusammen: Eltern mit Kinderwagen, Reisende mit schweren Koffern sowie Senioren und Menschen im Rollstuhl.

Vorbildlich ist der ehemalige Staatskonzern seit jeher bei der optischen und taktilen Markierung seiner Bahnsteige, die nach einem einheitlichen und schnell erlernbaren System aufgebaut sind. Sogenannte Bodenindikatoren mit Rillen und Rippen - kontrastierend zur Umgebung, also Weiß auf Teer - zeigen die sichere Verbindung etwa zwischen Bahnhofsgebäude und dem Busbahnhof an, Noppen signalisieren: Obacht! Diese Noppen sind zwar für den Langstock ausgelegt, aber jeder, der sie überschreitet, spürt den besonderen Bodenbelag. Das hilft nicht nur Blinden, sondern auch hochgradig sehbehinderten Menschen, deren Zahl zwar ständig steigt, aber immer noch nicht statistisch erfasst ist. Schätzungen gehen von mehr als einer Million Menschen mit einer solchen Sehbehinderung aus.

Leitsysteme funktionieren überall dort gut, wo es Gefahren für Leib und Leben gibt, zum Beispiel an Kreuzungen, oder dort, wo wir in künstlichen Welten stecken und schnell von Punkt A nach Punkt B wollen - in Bahnhöfen oder Flughäfen. Sonst reichen eindeutige architektonische Signale: klare Kontraste, eindeutige Häuserkanten sowie gut erkennbare Abgrenzungen zwischen Weg und Grünzone.

Gerade, weil sich Barrierefreiheit im öffentlichen Raum schwer verordnen lässt, und die Welt um uns herum vielfältig ist, machen jene Beispiele Mut, bei denen sich Stadtplaner und Politiker mit den Wünschen ihrer Bürger vertraut gemacht haben. In Konstanz etwa ließ die Stadt rund um das Münster das historische Pflaster neu verfugen und partiell abschleifen, sodass eine ebene Fläche entstand - gut für Stöckelschuhe und Rollstühle. Aber auch im Sinne von Denkmalschützern. Letztere kennen den Spagat zwischen Ensembleschutz und Barrierefreiheit nur zu gut.

© SZ vom 04.04.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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