Tim Berners-Lee:Der Erfinder des Netzes will seine Schöpfung retten

Tim Berners-Lee: Das Netz soll ein besserer Ort werden: Tim Berners-Lee am Montag auf dem Web Summit in Lissabon.

Das Netz soll ein besserer Ort werden: Tim Berners-Lee am Montag auf dem Web Summit in Lissabon.

(Foto: AP)
  • Tim Berners-Lee stellt eine "Magna Carta für das Internet" vor, um das Netz zu einem besseren Ort für alle Menschen zu machen.
  • Mit diesem "Vertrag" will der Web-Erfinder Unternehmen und Regierungen verpflichten, zu einem offenen Netz beizutragen.
  • Zu den Unterzeichnern gehören Unternehmen wie Facebook und Google, die mit für die Entwicklungen verantwortlich sind, die Berners-Lee kritisiert.

Von Simon Hurtz

Tim Berners-Lee ist sich keiner Schuld bewusst. "Ich bereue es nicht, das Netz erschaffen zu haben", sagte er auf der Internet-Konferenz "Web Summit" in Lissabon zu Politico. Dennoch hat er begonnen, die Auswirkungen seiner Schöpfung zu hinterfragen. "Wir können nicht davon ausgehen, dass Vernetzung automatisch zu mehr Verständigung führt."

Viele Jahre lang habe das Gefühl überwogen, dass die wunderbaren Dinge im Netz dominierten und zu einer Welt mit weniger Konflikten, besserer Wissenschaft und guter Demokratie führten, sagte der 63-Jährige dem Guardian. Der studierte Physiker und Software-Entwickler hatte in den achtziger und frühen neunziger Jahren am europäischen Kernforschungszentrum CERN in der Schweiz die technischen Grundlagen für ein weltweites Netz als Massenmedium entwickelt. Die positive Zukunftsvision habe dystopische Züge angenommen. "Wir haben Online-Missbrauch, Vorurteile, Voreingenommenheit, Polarisierung, Falschnachrichten. [Das Netz] ist auf viele Arten kaputt."

Deshalb hat der Web-Erfinder einen Plan entwickelt, der dazu beitragen soll, dass seine Idee die Menschheit versöhnt und nicht spaltet. "Das Netz steht am Scheideweg", schreibt der Brite in seinem Aufruf, seine neue Kampagne #ForTheWeb zu unterstützen, die er auch in Lissabon präsentierte. Noch immer sei mehr als die Hälfte der Menschen offline, und wer Zugang zum Web habe, sehe seine Rechte und Freiheiten bedroht. "Wir brauchen einen neuen Vertrag für das Netz, mit klaren und harten Verantwortlichkeiten für jene, die die Macht besitzen, es zu verbessern. Ich hoffe, dass sich uns mehr Leute anschließen, um das Netz zu bauen, das wir wollen."

Interessierte können sich bei der World-Wide-Web-Foundation in einen Verteiler eintragen, um Unterstützung für die "Prinzipien des offenen Netzes" zu signalisieren. Die Initiatoren wollen die Unterstützer dann mit Informationen versorgen, wie sie ihrer Stimme Gehör verschaffen können. Die Kampagne #ForTheWeb will Einfluss auf Regierungen und Unternehmen nehmen, die Entscheidungen über die Zukunft des World Wide Webs treffen.

Der vollständige Vertrag, den Berners-Lee eine "Magna Carta für das Internet" nennt, soll im Mai 2019 veröffentlicht werden. Zu diesem Zeitpunkt wird voraussichtlich mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung online sein. Bislang gibt es neun eher vage Grundprinzipien, die sich an Regierungen, Unternehmen und Bürger richten. Sich zu ihnen zu bekennen, kostet niemanden etwas. Es bleibt unklar, wie überprüft und durchgesetzt werden soll, dass sich die Unterzeichner an die folgenden Selbstverpflichtungen halten:

Regierungen werden sicherstellen, dass jeder Zugang zum Internet hat, das gesamte Internet allzeit verfügbar halten und das Recht auf Privatsphäre der Nutzer achten. Unternehmen werden das Internet bezahlbar und zugänglich für jeden machen, Privatsphäre und persönliche Daten der Kunden respektieren und Technologien entwickeln, die das Gute im Menschen herausbringen und das Schlechte vermeiden. Bürger werden das Netz weiterentwickeln und Inhalte beitragen, starke Gemeinschaften aufbauen, die sich zivilem Diskurs und Menschenwürde verpflichten, und für das offene Netz kämpfen, sodass es eine Plattform für Menschen auf der ganzen Welt bleibt.

Zusätzlich hat die Web-Foundation einen ausführlichen Bericht erstellt. Er blickt zurück auf bald drei Jahrzehnte, in denen das Netz existiert, und gibt Handlungsempfehlungen, um aktuelle negative Entwicklungen aufzuhalten. Ursprünglich sei die Macht im Netz auf viele verteilt gewesen, nun läge sie in den Händen weniger. "Wir haben die Hoheit über unsere Daten verloren, und sie werden gegen uns verwendet", heißt es in dem Bericht. Bösartige Akteure manipulierten Nachrichten und Informationen. Immer mehr Regierungen zensierten das Netz oder wollten es komplett abschalten. Ziel sei ein Ort, an dem jeder seine digitale Identität selbst kontrolliere, wo jeder nachvollziehen könne, wie automatisierte Entscheidungen sein Leben beeinflussen und sich so sicher fühle, dass er sich frei äußern könne.

Bislang haben knapp 60 Unternehmen, Organisationen und digitale Denkerinnen und Denker den Vertrag unterschrieben. Dazu zählen der Milliardär Richard Branson und Harvard-Professor Jonathan Zittrain, aber auch die französische Regierung, Google und Facebook. Die Unterstützung der großen Tech-Konzerne ist ein wichtiges Signal, dass ihnen ihre Nutzer nicht völlig egal sind. Allerdings dürfte sie vielen Menschen, die sich für ein offenes Netz einsetzen, widersprüchlich bis scheinheilig vorkommen.

"Wer sich zu den Grundprinzipien bekennt, kann keine Zensur ausüben"

Im Sommer enthüllte The Intercept, dass Google eine zensierte Version seiner Suchmaschine entwickelt, um Zugang zum chinesischen Markt zu erhalten. "Wer sich zu den Grundprinzipien bekennt, kann keine Zensur ausüben", sagte Berners-Lee dem Guardian. "Wird das reichen, um Suchanbieter davon abzuhalten? Wird das die chinesische Regierung veranlassen, sich zu öffnen? Ich weiß nicht, ob das passieren wird." Schließlich sind die Prinzipien auf keine Weise bindend.

Auch Facebook ist für viele Entwicklungen mitverantwortlich, die Berners-Lee als Bedrohung für die Zukunft des Netzes empfindet. Im August stellte er sein Projekt Solid vor, mit dem er das Web technisch dezentralisieren und den Nutzern die Hoheit über ihre Daten zurückgeben will. Die Solid-Technik denkt Berners-Lee praktisch ergänzend zu den nun vorgestellten ethischen Prinzipien. Wie kaum ein anderes Unternehmen stehen Facebook und seine Tochterfirmen Instagram und Whatsapp für Monopolisierung, den Verlust von Vielfalt und gewaltige Datensammlungen in den Händen eines einzelnen Konzerns. Staaten missbrauchen die Plattformen für Desinformationskampagnen, Extremisten geben den Ton an und manipulieren die öffentliche Meinung.

Berners-Lee bleibt dennoch optimistisch. Er glaubt, dass die Internetgiganten begonnen hätten, sich ihrer Verantwortung bewusst zu werden und ihren Einfluss kritisch zu hinterfragen. "Die Menschen in den großen Konzernen sorgen sich um Wahrheit und Demokratie", sagte Berners-Lee auf dem Web-Summit. "Es mag so aussehen, als sei der Geist aus der Flasche entwichen, aber das Internet hat uns schon viele Male überrascht."

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