Initiative "Birdwatch":Das Netz bekommt eine Fakten-Injektion

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Vögel zu beobachten, ist ein entspannendes Hobby. Ob das auch für "Birdwatch" auf Twitter gilt, wird sich zeigen. (Foto: Matt Rourke/AP)

Auf einer Sub-Plattform von Twitter sollen die Nutzer künftig über Fakten in Tweets diskutieren können. So kehrt die Ebene des Faktischen zurück - als soziales Medium.

Von Philipp Bovermann

Wale sind nicht echt. Sie sind von der Regierung finanzierte Roboter, um die Bevölkerung zu überwachen. Wenn so etwas auf Twitter steht, sollen die Nutzer künftig aktiv werden können - der Kurznachrichtendienst testet eine, in den Worten des Unternehmens, "gemeinschaftsgetriebene" Funktion gegen die Verbreitung von Falschnachrichten. Auf einem zunächst separaten Teil der Plattform namens "Birdwatch" sollen Diskussionen über den Wahrheitsgehalt von Tweets stattfinden, möglichst mit Quellenangaben für Behauptungen und einem eigenen Bewertungssystem für besonders zuverlässige Faktenchecker. Algorithmen im Hintergrund sollen dafür sorgen, dass es fair und ausgewogen zugeht, wenn die Community darüber diskutiert, was wahr und was falsch ist.

Birdwatch startet zunächst als Pilotprojekt mit etwa 1000 Nutzern. Bewerben können sich nur US-Bürger, spezielle Voraussetzungen gibt es nicht, Geld erhalten sie keins, die Diskussionen sind vorläufig auf der Twitter-Hauptseite auch nicht sichtbar. Auf der Oberfläche ändert sich also erst einmal nicht viel in einem sozialen Netzwerk, das zwar häufig in den Medien zitiert, aber nur von vergleichsweise wenigen Menschen genutzt wird. Trotzdem ist Birdwatch ein möglicherweise richtungsweisendes Projekt. Es handelt sich weniger um eine neue Funktion als vielmehr um eine Plattform innerhalb der Plattform - mit eigenen Belohnungsmechaniken und algorithmischen Sortierlogiken, die nicht auf möglichst geniale, polarisierende, reichweitenstarke Inhalte abzielen, sondern auf Faktentreue und Unparteilichkeit. Im besten Fall kehrt etwas zurück, dessen Fehlen schon für viele große und kleine Übel verantwortlich gemacht wurde: eine Ebene des Faktischen - als soziales Medium.

Wie entsteht eine solche Ebene? Was ist wahr? Bislang entschied Twitter, wie auch Facebook, das im Top-down-Verfahren. Im Verlauf des vergangenen Jahres begann das Unternehmen, Beiträge, die offensichtliche Lügen oder Verschwörungserzählungen verbreiteten, mit entsprechenden Warnhinweisen zu kennzeichnen. Die Plattform griff erstmals in die Diskussionen ein, die auf ihr stattfanden. Damit war der erste Schritt einer Entwicklung getan, hinter den sie nun nicht mehr zurückkann. Dass das Unternehmen den Ball nun an die Nutzer zurückspielen möchte, ist nur logisch. Es steht in der Kritik von Anhängern der Republikaner und ihrer Sympathisanten auf der ganzen Welt, die der Ansicht sind, ihre Meinungen seien - zusammen mit den Tweets von Donald Trump - zensiert worden. Im Streit um wahr und falsch hat ein Unternehmen nichts zu gewinnen. So was kostet nur Geld.

Besonders oft als "hilfreich" markierte Beiträge sind besser sichtbar

Konkret sollen die Nutzer einen Tweet nicht mehr nur aufgrund eines Verstoßes gegen die Nutzer-Richtlinien "melden", sondern auch, wenn sie den Inhalt für fehlerhaft halten, eine Birdwatch-Notiz verfassen können. Die landet dann in einem eigenen, für jeden öffentlich sichtbaren Diskussionsforum. Dort können die "Birdwatcher" sich gegenseitig bewerten. Besonders oft als "hilfreich" markierte Beiträge sind besser sichtbar. Notizen von Nutzern, die häufig und von vielen verschiedenen Nutzer-Milieus positive Rückmeldungen erhalten, rutschen ebenfalls im Ranking nach oben. Außerdem sollen die Algorithmen darauf achten, gut sichtbar Einschätzungen aus unterschiedlichen Perspektiven zu platzieren. Also zur Frage, ob Wale Roboterspione sind, beispielsweise die Einschätzung eines Buckelwalforschers - wegen der guten Birdwatch-Bewertungen seines mit allerlei Quellen unterfütterten Mini-Traktats über Megaptera novaeangliae -, aber auch von jemandem, der in der Vergangenheit immer wieder überzeugend darlegen konnte, dass die Regierung zu allem fähig sei. So tagt und diskutiert, nach den Plänen von Twitter, der ständige Untersuchungsausschuss der Community über sich selbst.

Facebook hat sich zunächst für einen anderen Schritt auf dem Weg in ein System digitaler Checks and Balances entschieden: Dort bearbeitet seit einigen Monaten ein prominent besetztes "Oversight Board" als eine Art internes Verfassungsgericht strittige Entscheidungen der Lösch-Mitarbeiter des Unternehmens. Youtube ernennt Nutzer, die besonders häufig problematische Inhalte melden, zu "Trusted Flaggers". Die Meldungen dieser Hilfssheriffs bearbeiten die Moderatoren priorisiert, das Unternehmen gibt ihnen aber keine direkte Macht über die Inhalte.

Birdwatch ist nun die erste Initiative einer größeren Plattform, die nicht darauf abzielt, gezielter oder fairer Inhalte zu moderieren, also in vielen Fällen: zu löschen. Es geht vielmehr um "Kontext, dem die Menschen vertrauen und den sie für wertvoll erachten", so formuliert es Keith Coleman, Vizepräsident von Twitter, in einem Blogpost. Wie dieser Kontext aussieht, welche Beiträge der "Birdwatcher" gut sichtbar sind und welche nicht, entscheiden allerdings die Algorithmen des Unternehmens. Eine demokratische Plattform wird Twitter also nicht. Aber der Kurznachrichtendienst schafft einen digitalen Raum für eine Diskussion über Fakten.

Nach Abschluss der Pilotphase sollen die beiden zunächst getrennten Ebenen Twitter und Birdwatch miteinander verflochten werden. Dann sollen die Faktenchecks der Nutzer dort stehen, wo aktuell noch die Hinweise von Twitters Moderatoren-Team vor "umstrittenen und möglicherweise irreführenden" Inhalten warnen. Nicht als Kommentar, sondern als Teil des Beitrags.

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