Stuttgart (dpa/lsw) - Der Berufsschullehrerverband Baden-Württemberg (BLV) fordert von der Landesregierung, die Arbeitsbedingungen von Lehrkräften zu verbessern. „Wir brauchen eine mutige und zukunftsfähige Reform der Arbeitszeit und Arbeitsbedingungen von Lehrkräften und Schulleitungen“, sagte der BLV-Vorsitzende Thomas Speck am Montag in Stuttgart. Die Politik müsse dringend Maßnahmen ergreifen, um überhöhte Arbeitszeiten zu senken.
So fordern die Berufsschullehrer unter anderem eine Entlastung bei Prüfungsaufsichten durch zusätzliches nichtlehrendes Personal, die Einführung eines Lebensarbeitszeitkontos für Lehrkräfte oder die Einstellung zusätzlicher Sozialarbeiter oder Sonderpädagogen. Langfristig, so die Forderung des Verbandes, brauche es mehr Freiheit für die Schulen vor Ort, wie Ressourcen am besten verteilt werden sollten. „Dort kann am besten entschieden werden, welche Tätigkeiten erforderlich sind und wie viel Zeit dafür eingesetzt werden muss“, sagte der stellvertretende BLV-Chef Michael Niedoba.
Einer neuen Studie zufolge, die am Montag in Stuttgart vorgestellt wurde, leisten Berufsschullehrer im Durchschnitt drei Stunden Mehrarbeit wöchentlich. Die Schulleiter sind mit acht Stunden Mehrarbeit pro Woche sogar noch stärker gefordert als ihre Kollegen. Damit überschreiten die Lehrer an beruflichen Schulen die reguläre Jahresarbeitszeit bei Beamten von 1804 Stunden um sieben beziehungsweise zwanzig Prozent. Besonders stark von Überstunden betroffen sind der Studie zufolge Pädagoginnen und Pädagogen in Teilzeit.
Für die Studie der Universität Mannheim im Auftrag des BLV gaben 1827 Lehrkräfte an beruflichen Schulen von Februar bis Mitte November 2022 ihre Arbeitszeit für eine typische Schulwoche an, zudem werteten die Forscher auch genauere Angaben von 213 Lehrkräften aus, die wie in einem Tagebuch von Mitte März bis Mitte Oktober 2022 ihre Tätigkeiten erfassten. Die Ergebnisse der Studie sind nach Angaben der Autoren repräsentativ für Lehrkräfte an beruflichen Schulen im Südwesten.
Die Arbeitsbelastung der Lehrkräfte wirkt sich demnach auch auf die berufliche Zufriedenheit und das Wohlbefinden der Lehrkräfte aus. „Je höher die Arbeitszeit ist, desto geringer wird die berufliche Zufriedenheit und auch das Wohlbefinden“, sagte Carmela Aprea, Professorin für Wirtschaftspädagogik an der Uni Mannheim und Mitautorin der Studie. Besonders der Indikator des Wohlbefindens falle bei den Lehrkräften sehr niedrig aus. Die Studie sei in den Ausläufern der Corona-Pandemie durchgeführt worden, erklärte Aprea. Zu dieser Zeit sei das Wohlbefinden der Gesamtbevölkerung recht niedrig gewesen. „Aber der Wert der Lehrkräfte ist eben noch mal unterhalb des niedrigen Wertes der Gesamtbevölkerung.“
Das Kultusministerium erklärt sich die hohe Arbeitsbelastung der Berufsschullehrer auch mit der großen Zahl an Geflüchteten, die dort unterrichtet werden. Die Lehrkräfte und Schulleitungen arbeiteten außerordentlich engagiert und kompetent an deren Integration in Gesellschaft und Arbeitsleben, teilte ein Sprecher von Ministerin Theresa Schopper (Grüne) mit. Man habe auch bereits mehrere Forderungen des BLV umgesetzt. Man stoße aber auch immer wieder an Grenzen, „beispielsweise aufgrund mangelnder Ressourcen oder der Verfügbarkeit von Lehrkräften auf dem Arbeitsmarkt“, hieß es weiter.
Unterstützung für ihre Forderung nach mehr Freiheit der Schulen bei der Ressourcenverteilung bekamen die Berufsschullehrer vom Verband Unternehmer Baden-Württemberg. Die Schulorganisation des 19. Jahrhunderts tauge nicht mehr für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts, sagte Stefan Küpper, Geschäftsführer für Politik, Bildung und Arbeitsmarkt. „Wir brauchen selbstständige Bildungsstätten, die von starken Schulleitungen mit einem hohen Maß an Eigenverantwortung für Profil, Personal und Budget in die Zukunft geführt werden.“
Der SPD-Bildungsexperte Stefan Fulst-Blei forderte die Landesregierung auf, Konzepte für die Erfassung der Arbeitszeit von Lehrkräften zu entwickeln. „Ja, eine Neuregelung der Arbeitszeiterfassung von Lehrkräften ist ein Mammutprojekt“, sagte Fulst-Blei. Es stehe aber außer Frage, dass es diese Neuregelung brauche. Auch die FDP-Abgeordnete Alena Fink-Trauschel forderte Kultusministerin Theresa Schopper dazu auf, die Arbeitszeit richtig erfassen zu lassen und etwas gegen die „erhebliche Mehrarbeit zu unternehmen“.
Der Philologenverband hatte zu Beginn des Schuljahres angekündigt, das Land auf die Erfassung der Arbeitszeit von Lehrkräften verklagen zu wollen. „Die Vorbereitungen sind abgeschlossen“, sagte Ralf Scholl, Vorsitzender des Gymnasiallehrerverbands am Montag. Nun suche der Verband Lehrerinnen und Lehrer, die bereit seien, zu klagen. Er rechne damit, dass die Klage Anfang oder Mitte Dezember eingereicht werden könne.
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