Immerhin reden sie wieder. Seit Montagabend verhandeln Gewerkschaften und Arbeitgeber nach fast sechswöchiger Pause über die Bezahlung von Erziehern und Sozialarbeitern. "Ich bin optimistisch, dass wir den Streik bald beilegen können", sagte der Präsident des kommunalen Arbeitgeberverbands, Thomas Böhle, der Süddeutschen Zeitung. Er kritisierte, dass die Kitas trotz der Gespräche weiter bestreikt werden. Verdi-Chef Frank Bsirske sagte, solange kein annehmbares Ergebnis vorliege, werde gestreikt. Dies belastet zunehmend auch Kinder, sagt der Kinderpsychologe Wassilios Fthenakis.
SZ: Herr Fthenakis, was bedeutet der Streik eigentlich für die Kinder?
Wassilios Fthenakis: Drei oder vier Wochen sind für kleine Kinder eine sehr lange Zeit. Der Stress der Eltern strahlt auf die Kinder aus. Es kommt deshalb darauf an, wie die Eltern ihren Kindern die Situation vermitteln.
Wie erklärt man den Streik kindgerecht?
Indem man auf Alltagserfahrungen des Kindes im Kindergarten zurückgreift. Man kann dem Kind zum Beispiel erklären, dass die Erzieherin gern mehr Zeit für das Kind hätte und deshalb jetzt für bessere Arbeitsbedingungen kämpft. Wichtig ist aus meiner Sicht, dass die Eltern den Kindern gegenüber Verständnis für die Erzieher äußern. Denn das Kind sollte nicht in einen Konflikt hineingezogen werden.
Die Solidarität der Eltern nimmt derzeit aber spürbar ab.
Das ist für mich auch das Gefährlichste an diesem Streik, dass nun Fronten zwischen Eltern und Erziehern entstehen. Das ist besonders deshalb so gravierend, weil wir aus der Forschung wissen, dass sich ein Kind in der Kita dann am besten entwickelt, wenn ein harmonisches Verhältnis zwischen den Eltern und den Fachkräften besteht. Beide Seiten müssen partnerschaftlich zusammenarbeiten. Ich verstehe auch die Eltern. Viele Familien sind von außen gesteuert, durch die Arbeitswelt, die knappe Zeit, aber auch durch die Ansprüche, die sie an sich selbst stellen. Die Kita übernimmt in diesem System eine wichtige Unterstützungsfunktion, die nun wegfällt. Aber: Wenn Erwachsene streiten, verlieren sie schnell den Blick auf die Kinder. Das passiert in der Familie, wenn sich Eheleute scheiden lassen. Und es passiert auch in diesem Fall, wenn die Eltern, die Erzieher, die Arbeitgeber und die Gewerkschaften ihre Konflikte austragen. Hier braucht es im Grunde genommen eine gemeinsame Strategie, die das Kind in den Mittelpunkt stellt. Es geht hier nicht nur alleine um die Ansprüche der Erzieherinnen, letztendlich geht es um die Kinder.
Halten Sie die Forderungen der Erzieher denn für berechtigt?
Natürlich, ich verstehe sie außerordentlich gut. Sie tragen eine enorme Last. Ich habe in diesem Jahr wieder in mehreren Kindergärten hospitiert, und ich bewundere jede Fachkraft, die diese Belastungen aushält.
Welche sind das?
Die Einrichtungen sind unterfinanziert und unterbesetzt, hinzu kommt der gestiegene Verwaltungsaufwand. Zusätzlich bringen auch die Kinder mehr Herausforderungen mit: Scheidungen, Armut, Migrationshintergrund. In einer Kita in Hannover zum Beispiel kommen heute über 50 Prozent der Kinder aus Migrantenfamilien. Dann wird zusätzliche sprachliche Förderung nötig, und darauf sind viele Erzieher nicht ausreichend vorbereitet.
Sie fordern eine bessere Qualifizierung?
Ja. Ich habe zwölf Länder miteinander verglichen, und überall bewegt sich die Ausbildung für den Elementarbereich mindestens auf Bachelor-Niveau, noch üblicher ist der Master, in Schottland zum Beispiel. Die schottische Regionalregierung hat zwischen 1999 und 2012 mehr Bildungsreformen angestoßen als Deutschland insgesamt seit 1945. Jeder Absolvent in Schottland muss zusätzlich didaktische Fähigkeit nachweisen. Zudem gibt es ein ständiges System der Evaluation, das die Erzieher in ihrer beruflichen Weiterentwicklung unterstützt. Dies fehlt bei uns gänzlich. Wir lassen die Fachkräfte einfach allein. Das kann in diesem Sinne so nicht mehr weitergehen.
Kann dieser Streik etwas daran ändern?
Wir sollten nicht vergessen: Die eigentlich Verantwortlichen für diese Misere sitzen gar nicht mit am Tisch. Denn verantwortlich ist die Politik. Deutschland investiert nur 0,65 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in frühkindliche Bildung. Die OECD empfiehlt Investitionen von mindestens einem Prozent des Bruttoinlandsproduktes, Schweden investiert sogar mehr als zwei Prozent. Wir haben hier ein systemimmanentes Problem. Schwache Menschen in der Gesellschaft werden offenbar nicht genauso wertgeschätzt wie die starken Teile der Gesellschaft. Und Kinder haben leider keine Lobby. Doch die Politik muss dringend darüber nachdenken, ob sie den wichtigsten Abschnitt im Bildungsverlauf eines Kindes weiterhin so chronisch unterfinanziert lässt. Und sie sollte darüber nachdenken, ob wir auch weiterhin mit der niedrigsten Ausbildungsqualität die schwierigste und zugleich wichtigste pädagogische Aufgabe bewältigen wollen.