An der aktuellen Pisa-Studie haben vergangenes Jahr 223 Schulen in Deutschland teilgenommen, darunter die Goethe-Schule in Hamburg-Harburg. Deren Leiterin, Vicky-Marina Schmidt, hat bereits den Pisa-Schock vor fast zwanzig Jahren miterlebt - sie wollte das enttäuschende Ergebnis damals nicht wahrhaben. Heute testet kaum ein Bundesland die Leistungen seiner Schulen so intensiv wie Hamburg. In der IQB-Studie, einer Art innerdeutschem Pisa, hat sich die Hansestadt nach oben gekämpft. Den Tests kann Schmidt inzwischen Gutes abgewinnen.
SZ: Frau Schmidt, wie war der Pisa-Test für Sie?
Vicky-Marina Schmidt: Aufwendig. Wir bekamen eine Liste der ausgewählten Schülerinnen und Schüler und detaillierte Anweisungen. Vor dem Test kamen Pisa-Mitarbeiter und haben alle Computer geprüft. Die Schülerinnen und Schüler wurden gruppenweise an zwei Tagen geprüft, insgesamt haben bei uns 60 Jugendliche am Pisa-Test teilgenommen. Sie mussten für vier Stunden aus dem Unterricht, um am Computer die Aufgaben zu lösen. Das Testprogramm ist über einen Stick abgespielt worden und hat automatisch die Nutzung aller anderen Funktionen blockiert. Da konnte niemand im Internet surfen. Wir haben darauf geachtet, dass die Jugendlichen anschließend etwas Zeit zum Ausspannen hatten und nicht direkt zurück in den Unterricht mussten.
Wie fanden die Schüler den Test?
Wir haben ihnen erklärt, dass der Test nicht benotet wird, sie sich aber bemühen sollen. Aber die kennen das inzwischen. Das war bei der ersten Pisa-Runde vor fast 20 Jahren noch ganz anders. Damals wusste niemand, was es mit solchen Untersuchungen auf sich hatte. Inzwischen haben wir in Hamburg regelmäßige externe standardisierte Leistungskontrollen, den sogenannten Kermit-Test, der jeweils in der zweiten, fünften, siebten und neunten Klasse ansteht. Anders als bei Pisa bekommen wir dabei eine detaillierte Rückmeldung: Wie haben unsere Schüler abgeschnitten? Wie haben sie sich entwickelt? Nach dem Pisa-Schock hat sich eine Feedback-Kultur an den Schulen entwickelt.
Die Lehrkräfte fühlen sich durch so viel Testeritis bestimmt dauerüberwacht.
Das würde ich nicht sagen. Am Anfang gab es sicherlich hier und da die Angst, mit den Tests sollten Kollegen ausfindig gemacht werden, die keine gute Arbeit leisten. Wie ein Lehrer seinen Unterricht macht, war früher ja tatsächlich eine Blackbox. Was passierte, wenn die Klassentür zu war, war selbst im Kollegenkreis selten ein Thema. Als Lehrer war man Einzelkämpfer. Inzwischen ist es viel selbstverständlicher, den Unterricht gemeinsam zu entwickeln und sich über Methoden und Standards zu verständigen. Das sorgt dafür, dass sich die Kolleginnen und Kollegen durch die Tests nicht mehr persönlich angegriffen fühlen. Für uns sind das gute Hinweise. Die Infos können wir wirklich gebrauchen.
Haben Sie nicht selbst schon ein gutes Gespür dafür, wo es bei den Schülern hakt?
Die Testergebnisse decken sich oft mit unserer Wahrnehmung. Aber nicht immer, und da wird es interessant.
Zum Beispiel?
Es gibt Schüler, die in Mathematik im Unterricht nicht besonders auffallen, aber im Kermit-Test plötzlich eine herausragende Punktzahl haben. Das ist ein Hinweis, dass unser Angebot im Unterricht diese Gruppe nicht erreicht. Ab der siebten Klasse bilden wir zum Beispiel Profilklassen, die Jugendlichen werden je nach Interesse in Musik oder Naturwissenschaften gefördert. Mit dem Kermit-Test erkennen wir, ob zum Beispiel eine Schülerin mit naturwissenschaftlichem Profil auch ein Talent für Sprachen hat. Wir verlieren Mehrfachbegabungen nicht aus dem Blick und könnten der Schülerin raten, ein Englischzertifikat abzulegen. Die Daten regen dazu an, genauer über den Unterricht nachzudenken.
Haben Sie wegen der Tests schon einmal etwas geändert?
Wir haben zum Beispiel in einer siebten Klasse einen Lesefächer ausprobiert. Das sind Kärtchen mit verschiedenen Arbeitsschritten: Mache dir einen ersten Überblick. Unterstreiche das Wichtigste. Die Jugendlichen können sie wie bei einem Fächer nach und nach wegklappen und sich so systematisch einen Text erschließen. Jeder Schüler bekam einen Lesefächer. Die Lehrer haben berichtet, dass die Jugendlichen gut damit zurechtkamen. Wir waren daher gespannt auf das Kermit-Ergebnis.
Pisa 2018: Was die Jugendlichen können sollten
Der Schwerpunkt der aktuellen Pisa-Studie lag auf der Lesekompetenz. Erstmals lösten die Schülerinnen und Schüler die Testaufgaben am Computer. Geprüft wurde dabei, wie die Jugendlichen mit speziell digitalen Textsorten zurechtkommen - etwa mit einem Blogbeitrag wie in dieser Aufgabe.
Pisa 2018: Was die Jugendlichen können sollten
Lesekompetenz beinhaltet für die Pisa-Forscher verschiedene Aspekte, die in den jeweiligen Teilaufgaben abgefragt werden. Eine grundlegende Fähigkeit ist es dabei, einen Überblick über den Text zu gewinnen und die gesuchte Information darin zu lokalisieren...
Pisa 2018: Was die Jugendlichen können sollten
Hier sollten die Schülerinnen und Schüler herausfinden, wann die Verfasserin des Blog-Eintrags mit ihrer Forschung begann. Die richtige Antwort lautet: Die Professorin begann vor neun Monaten mit ihrer Feldforschung.
Pisa 2018: Was die Jugendlichen können sollten
In dieser Teilaufgabe wird das Textverständnis überprüft. Hier sollen die Schülerinnen und Schüler daher den Inhalt in eigenen Worten wiedergeben. Die volle Punktzahl erhielten die Testteilnehmer zum Beispiel für eine Antwort wie diese: "Wohin sind die Bäume verschwunden?"
Pisa 2018: Was die Jugendlichen können sollten
Zunehmend wichtig im digitalen Zeitalter ist die Fähigkeit, Tatsachenbehauptungen von Meinungsaussagen zu unterscheiden.
Pisa 2018: Was die Jugendlichen können sollten
Und so sähe die korrekte Lösung aus.
Pisa 2018: Was die Jugendlichen können sollten
Neben dem Blogbeitrag sollten die Schüler sich auch mit einem journalistischen Artikel befassen. In dieser Teilaufgabe geht es wieder darum, zunächst die relevante Information im Text zu lokalisieren.
Pisa 2018: Was die Jugendlichen können sollten
Können die Jugendlichen Widersprüche zwischen verschiedenen Texten entdecken und damit umgehen? Diese Kompetenz wollen die Pisa-Forscher mit dieser Teilaufgabe überprüfen.
Pisa 2018: Was die Jugendlichen können sollten
Mit dieser Aufgabe wird geprüft, ob die Schülerinnen und Schüler die unterschiedlichen Erklärungen, die die verschiedenen Texte bieten, identifizieren können.
Pisa 2018: Was die Jugendlichen können sollten
So sähe die richtige Lösung aus.
Pisa 2018: Was die Jugendlichen können sollten
In dieser Teilaufgabe geht es darum, ob die Schüler die unterschiedlichen Erklärungen für das Verschwinden verstanden haben und zwischen ihnen eine Entscheidung treffen können.
Und?
Wir haben gestaunt. In der Parallelklasse, die den Fächer nicht hatte, gab es keine so klare Leistungsentwicklung. Jetzt setzten wir den Lesefächer in allen Klassen ein.
Sie haben 2000 a m ersten Pisa-Test teilgenommen. Wie hat der Schock gewirkt?
Heilsam. Wir befassen uns heute zum Beispiel intensiver damit, wie Kinder den Unterricht wahrnehmen, die Deutsch nicht als Muttersprache gelernt haben. Und uns ist heute wichtiger, dass Schüler den Stoff wirklich verstanden haben. Ich wäre bei meiner Abiturprüfung oft noch gut mit Auswendiglernen durchgekommen. Vor Pisa herrschte ja allgemein der Glaube, dass Deutschland ein sehr gutes Bildungssystem hat. Niemand hat das hinterfragt. Als die Ergebnisse kamen, war ich daher tatsächlich sehr betroffen. An meiner damaligen Schule hat sich das niemand erklären können. Es wurde verzweifelt nach Gründen gesucht, die nicht in unserer Zuständigkeit lagen. Die schockierendste Erkenntnis für mich war: Ich habe meine Schüler einfach nicht richtig gesehen.
Wie haben Sie Pisa damals erlebt?
Ich war Junglehrerin an einer Gesamtschule in Schleswig-Holstein und Schüler aus meiner Klasse wurden für den Test ausgewählt. Niemand wusste so recht, was es damit auf sich hat. Hinterher kamen die Jugendlichen aufgeregt zurück in den Unterricht und klagten, wie schwer das war. Ich dachte nur: Oha. Was für eine Sprengkraft die Ergebnisse für unser Bildungssystem entfalten würden, ahnte ich da noch nicht.