Pisa 2015:"Dieses Ranglistensystem halte ich für absurd"

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Seit 2000 wird alle drei Jahre eine Pisa-Studie durchgeführt. (Foto: Armin Weigel/dpa)

Der Soziologe Heinz-Dieter Meyer kritisiert die Pisa-Studie als "eine Menge heiße Luft". Er hält die gesamte Erhebung sogar für gefährlich.

Interview von Matthias Kohlmaier

Heinz-Dieter Meyer studierte Soziologie in Göttingen, promovierte in den USA und ist Associate Professor an der New York State University in Albany. Er kritisiert die Pisa-Studien seit vielen Jahren und hat 2014 einen umfangreichen offenen Brief an Pisa-Chef Andres Schleicher mitverfasst. ( Eine Reaktion der OECD finden Sie hier.) Aktuell ist von Meyer das Buch "The Design of the University: German, American, and 'World Class'" erschienen.

SZ: Herr Meyer, Sie haben sich vielfach kritisch über die Pisa-Studien geäußert. Aber die Erhebung hat doch sicher auch etwas Gutes?

Heinz-Dieter Meyer: Vergleichsstudien sind prinzipiell nichts Schlechtes, solange gezielte und relevante Vergleiche angestellt werden. Zum Beispiel möchte sich vielleicht Bayern mit Schleswig-Holstein vergleichen oder Spanien mit Italien. Alles in Ordnung, solange es um sinnvolle, punktuelle Vergleiche geht, hinter denen ein pädagogisches Konzept steht. Das ist bei Pisa nur sehr bedingt der Fall.

Pisa hat den Anspruch, ein weltweites Ranking abzuliefern.

Pisa will global sein, richtig, und am liebsten von Studie zu Studie noch globaler werden und weitere Länder einbeziehen. Aber es hat doch wenig Sinn, kulturell und vom Bildungssystem her völlig unterschiedliche Länder miteinander zu vergleichen. Wenn Schüler in Land A in Mathematik schon die Differenzialrechnung behandelt haben und das Thema in Land B erst ein Jahr später drankommt, wie soll da ein sinnvoller Vergleich aussehen? Dieses Ranglistensystem halte ich für absurd. Medaillenspiegel kann man bei Olympia machen, aber nicht für die Schulen. Dafür ist die Materie zu komplex.

Pisa ist also Unsinn?

Auf jeden Fall kreiert die OECD damit eine Menge heiße Luft und führt viele Bildungspolitiker in die Irre. Jedenfalls dann, wenn Bildungspolitik hauptsächlich daran ausgerichtet wird, im Pisa-Ranking ein paar Plätze nach oben zu klettern. Pisa ist ein Kunstprodukt der Datenpräsentation.

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Von Matthias Kohlmaier

Sie haben über die Schwierigkeit gesprochen, Länder miteinander zu vergleichen. Können Sie das an einem konkreten Beispiel verdeutlichen?

Nehmen wir Peru: Dort arbeiten die meisten Menschen in der Landwirtschaft und es ist ganz normal, dass Jugendliche dort mit anpacken, weshalb viele 15-Jährige - und nur die werden für Pisa getestet - viele Stunden "Kinderarbeit" verrichten. Vergleicht man so ein Land nun mit Finnland, ist das wie der sprichwörtliche Vergleich zwischen Äpfeln und Birnen. Die hiesige Kultur und Tradition wird bei der Auswertung von Pisa leider fast vollkommen ignoriert.

Lässt sich so auch erklären, warum viele asiatische Länder seit Jahren ganz oben in den Ranglisten stehen?

In der konfuzianischen Tradition gibt es einen entscheidenden Schnittpunkt in einer Bildungskarriere, der liegt etwa beim Alter von 17 bis 18 Jahren. Wer da kein Top-Resultat bringt, der schafft es an keine angesehene Uni und ist im Prinzip fürs ganze Leben massiv im Nachteil. Folglich sind die 15-Jährigen in diesen Ländern extrem auf Leistung getrimmt, weil es für sie nur diese eine Chance gibt. In den USA, wo es für alle, die in der Schule einmal scheitern, noch eine zweite und auch eine dritte Chance gibt, sind die bei Pisa getesteten Jugendlichen in dem Alter natürlich nicht so weit. Weil sie es gar nicht sein müssen.

Sie leben und arbeiten seit Langem in den USA. Wie unterscheidet sich die Diskussion um Pisa dort von der in Deutschland?

Es ist eher eine Expertendiskussion, einen Pisa-Schock wie in Deutschland hat es hier nie gegeben. In den USA sind es die Menschen gewohnt, dass man in solchen Vergleichsstudien meist im Mittelfeld liegt, das war schon immer so. Durch die multikulturelle und sehr heterogene Gesellschaft ist das leicht erklärbar. Die politische Rezeption ist der in Deutschland aber sehr ähnlich. Auch hier versuchen viele Bildungspolitiker, den Rahmenlehrplan so zu verändern, dass man bei Pisa künftig besser abschneiden kann.

Mit Ihrer Ablehnung von Pisa stehen Sie unter den Bildungsforschern nicht allein. Warum ist die Studie trotzdem für die Politik so ein wichtiger Gradmesser?

Weil es einfach ist, Zahlen in einer Tabelle miteinander zu vergleichen und dann womöglich zu sagen: 'Südkorea hat ja in Mathematik viel besser abgeschnitten, vielleicht sollten wir uns an deren Schulsystem orientieren.' Dass dieses System aber auf Lernen bis zum Umfallen unter Vernachlässigung jeglicher sozialer Komponenten beruht, das steht in der Rangliste nicht. Wir können durch die Digitalisierung viel mehr Dinge messen als je zuvor. Und weil wir es können, glauben wir leider manchmal auch, dass wir es müssen.

Was meinen Sie damit?

Die Legitimierung der Politik durch Daten ist das einfachste, was man sich als Politiker wünschen kann. Pisa hat dazu beigetragen, dass die Bildungspolitik erheblich mehr unter Druck steht als früher. Die Studien kommen alle drei Jahre, und in der Zeit sollen Ergebnisse sichtbar sein. Bei manchen Reformen ist das aber gar nicht möglich.

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Deshalb werden Schüler immer häufiger in Studien wie TIMSS, Vera oder IQB getestet, um zu überprüfen, ob die Bildungspolitik auf dem richtigen Weg ist.

Absolut, das ist in den USA nicht anders und in meinen Augen unsinnig. US-Schüler müssen etwa einmal pro Monat einen großen standardisierten Test absolvieren - an diesen Testtagen passiert übrigens in den Schulen sonst überhaupt nichts. Die Schüler gehen dann schon mit Bauchschmerzen zur Schule, was dazu geführt hat, dass viele Eltern ihre Kinder an den Testtagen einfach krank melden. Aber diese ständigen Tests bedeuten nicht nur Stress für die Schüler, sondern sind auch sonst problematisch.

Inwiefern?

Grundsätzlich stellt sich die Frage, ob bei diesen Tests das Kosten-Nutzen-Verhältnis passt. Damit meine ich nicht nur die finanziellen Kosten, sondern auch die intellektuellen. Es gehen schließlich für Schüler wie auch Lehrkräfte eine Menge Ressourcen verloren, damit so viel getestet werden kann. Der zentrale Punkt, der Pisa und Co. so gefährlich macht, ist aber meiner Ansicht: Damit werden privaten Anbietern Tür und Tor geöffnet, die diese Tests nicht nur durchführen, sondern unter Umständen auch Daten auswerten.

Sie meinen Anbieter wie den Bildungsverlag Pearson. Wie arbeiten solche Unternehmen?

Sie bieten zum Beispiel an, auf den einzelnen Schüler heruntergebrochene Teiluntersuchungen mitzuliefern, wenn das die Schulleitung oder auch die Eltern des Kindes denn kaufen wollen. Da steht dann drin, was Johnny machen muss, damit er seine Probleme in Algebra in den Griff bekommt. Auf einen Nenner gebracht: Pisa ist ein Einfallstor für die Privatisierung im Bildungswesen.

Aber die Entscheidungsgewalt liegt doch trotzdem bei den zuständigen Ministerien - egal, was in derlei Untersuchungen privater Anbieter herauskommt.

In den USA nicht. Da können auch einzelne Schulen oder Schuldistrikte solche Entscheidungen treffen. Es geht natürlich um eine De-facto-Privatisierung, die durch profitorientierte Unternehmen angetrieben wird. Wenn dann politische Reformen aufgrund solcher Studien aus privater Hand beschlossen werden, kann man von deutlichen Interessenkonflikten sprechen.

Würden Sie solche auch der OECD unterstellen?

In der OECD sind die einzelnen Länder durch Finanz- und Wirtschaftsminister vertreten. Dort herrscht ein großes Interesse an Wettbewerbsfähigkeit, nicht an Bildung. Wenn sich die Bildungspolitik nun also an Pisa orientiert, mag das sehr im Sinne der Wirtschaft sein - ob es aber im Sinne der Bildung und damit der Schüler ist, würde ich bezweifeln.

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