Pädagogik:Die Pionierin und die Kinder

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Maria Montessori, geboren vor 150 Jahren, verschrieb ihr Leben den "bambini". Bis heute folgen Schulen und Kindergärten den Ideen der Reformpädagogin.

Von Francesca Polistina

Schon der erste Blick verrät, dass dies eine besondere Schule ist: Draußen, gut versteckt inmitten des Münchner Olympiaparks, breitet sich ein Acker für die Gartenarbeit aus. Zucchinis, Tomaten und Mais haben die Schülerinnen und Schüler dort unter anderem angepflanzt. Drinnen, in den Klassenzimmern, sind die Tische in Gruppen angeordnet anstatt aufgereiht, Teppiche laden zum Sitzen auf dem Boden ein. An den Wänden stehen Regale, gut erreichbar für jede Körpergröße und reichlich gefüllt mit Lernmaterialien. Es gibt Pflanzen und es gibt Holz, viel Holz.

Die Montessori-Schule im Olympiapark sieht so aus, wie sich ihre Namensgeberin Maria Montessori schon vor mehr als einhundert Jahren eine kindgerechte Schule vorgestellt hat: "Ich habe kleine Sitze aus Holz bauen lassen, leicht und möglicherweise elegant", schrieb sie einmal. Selbst wenn im frühen 20. Jahrhundert schon Kunststoffmöbel verfügbar gewesen wären, Montessori hätte sie vermutlich verschmäht. Sie liebte Materialien aus der Natur. Holz, Wolle, Stein, wie dafür gemacht, die Sensorik des Kindes zu entwickeln, fand die Italienerin.

Seit Maria Montessori ihre Pädagogik entwickelte, haben zwei Weltkriege und technische sowie soziale Umbrüche das Leben der Menschen grundlegend verändert. Trotzdem konstatiert Jörg Boysen, Vorsitzender des deutschen Montessori-Dachverbandes: "Die Essenz ihrer Methode ist heute die gleiche wie damals." Unter dieser Essenz versteht er, dass jedes Kind sich seinem eigenen Rhythmus entsprechend entwickeln können soll und dabei in seiner Neugierde und Selbstständigkeit bestärkt wird. Die Lehrerin, der Lehrer beobachtet das Kind und bereitet die Lernumgebung vor, passiv, aber nicht untätig, unterstützend statt eingreifend. "Hilf mir, es selbst zu tun" schreibt die Montessori-Schule im Olympiapark oben auf ihrer Website. Es ist das Motto der ganzen Pädagogik, die im Prinzip der Selbsttätigkeit ihren Fokus hat. Das Kind als Meister seiner selbst, nicht ohne rahmende Regeln zwar, aber ohne einengendes pädagogisches Korsett.

Frontalunterricht, Noten, starre Stundenpläne oder Jahrgangsklassen, all das gilt in Montessori-Schulen als deplatziert, obwohl sie sich an staatlichen Lehrplänen orientieren. "Es zuwiderläuft der Natur, wenn man Kinder nach Jahrgängen voneinander trennt", sagte Maria Montessori zum Beispiel. Bis heute spielen und arbeiten die Schüler deshalb in gemischten Altersgruppen, möglichst eigentätig und sich gegenseitig helfend, begleitet von Lernentwicklungsberichten.

Die Beamtentochter studierte als eine der ersten fünf Frauen in Italien Medizin

Eine zentrale Rolle spielen die Materialien. Die "Goldenen Perlen" etwa sollen helfen, den Zahlenraum bis 1000 zu erschließen. Es gibt einzelne Perlen zum Abzählen, auf Zehnerstäbe gefädelte Perlen, Hunderterplatten aus Perlen und einen Tausenderkubus. In der Kita, die an die Schule im Olympiapark angeschlossen ist, arbeiten schon die Kleinen damit. Sie tragen die Perlen mit sich, tauschen sie untereinander, lernen, die Zahlen zu benennen. Die stellvertretende Schulleiterin Corinna Arndt erklärt: "In der Schule führen sie das weiter und gehen den Weg der Abstraktion, sodass sie die vier Grundrechenarten im Zahlenraum bis eine Million erst mit und dann ohne Material vollziehen können."

Arndt empfängt in den Ferien, wie schon seit Beginn der Pandemie sind keine Schülerinnen und Schüler da. Ein sehr schwieriges Halbjahr sei das gewesen, sagt sie, aber es habe sie auch bestätigt, dass das selbständige Lernen "der richtige Weg" sei. Natürlich hätten die Kinder und Jugendlichen beim Homeschooling auch klassische Vokabel- oder Matheaufgaben bekommen, aber eben auch Arbeiten einbringen können, die "sie bewegen" - ein Referat über die eigene Katze etwa.

Die Montessori-Pädagogik ist heute in fast 150 Ländern verbreitet, gibt der internationale Dachverband in Amsterdam an. In Deutschland stehen rund 600 Kitas, auch "Kinderhäuser" genannt, und 400 Schulen. Zwei Drittel davon haben freie Träger, die meisten wurden in den Achtziger- und Neunzigerjahren von Eltern gegründet. Reguläre Abschlüsse bieten Montessori-Schulen in Kooperation mit staatlichen Schulen an, im Olympiapark, wo die Schüler bis zur zehnten Klasse lernen, können sie etwa den qualifizierenden Mittabschluss erwerben. Außerdem gibt es am Ende der neunten Klasse einen eigenen Montessori-Abschluss mit hohem Praxisanteil. Corinna Arndt hat wie alle Lehrkräfte eine Zusatzausbildung absolviert, denn im Lehramtsstudium fehlt die Montessori-Pädagogik.

Montessori-Spielzeug wie diese Pipette, die ein Junge in einer Berliner Kita benutzt, soll Kinder zum Forschen anregen. (Foto: imago/photothek)

Als Maria Montessori zur Welt kam, vor genau 150 Jahren, war das heutige Italien gerade mal neun Jahre alt. Viele Menschen erlitten bittere Armut, Millionen wanderten aus. Nur wenige, meist Männer, konnten lesen und schreiben. Mädchenbildung hatte keine Priorität und war auch nicht sonderlich erwünscht. Über die Kindheit von Maria Montessori ist wenig bekannt, laut ihrer Biografin Rita Kramer war sie nicht frühreif, lernte aber zielstrebig und war durchsetzungsfähig. Ihre Mutter, eine für die damalige Zeit ungewöhnlich aufgeschlossene Frau, soll ihre Tochter immer unterstützt haben, auch wenn sie sich für Technik und Naturwissenschaften interessierte - Disziplinen, die eigentlich ein Vorrecht der Männer waren.

Maria Montessori schaffte, was vor ihr kaum eine Italienerin geschafft hatte: Als eine der ersten fünf Frauen im Land studierte sie Medizin. Das bedeutete, den Hörsaal erst betreten zu dürfen, wenn die männlichen Studierenden auf ihren Plätzen saßen. Und es hieß auch, den Anatomiekurs abends zu absolvieren, wenn die Kommilitonen ihre Sezierübungen beendet hatten; denn Männer und Frauen sollten sich den Anblick eines nackten Leichnams um Gottes willen nicht teilen. Montessori hielt das nicht ab, dafür forschte sie zu gern. Sie war vom Wesen her eine Pionierin.

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Besonders die Kinderpsychiatrie faszinierte sie. Nach dem Uniabschluss arbeitete sie zunächst klinisch mit geistig behinderten und vernachlässigten Kindern. Aus ihren Beobachtungen heraus entwickelte sie ihre Erziehungsmethode. Jörg Boysen sagt, viele Menschen glaubten deshalb, es handele sich um eine Sonderpädagogik, doch das werde dem Ansatz nicht gerecht. Montessori habe ihre Methode jahrzehntelang bei allen Kindern angewendet.

Obwohl Montessoris Pädagogik in Deutschland, den Niederlanden und den USA häufig praktiziert wird, ist sie umstritten. Der Psychologe Helmut Lukesch schrieb 2016, ihre "altbackenen und allenfalls alltagspsychologischen Ausführungen" seien weit entfernt vom heutigen Stand der Entwicklungspsychologie, eine Methode aus ihnen abzuleiten, sei "wirklichkeitsfremd". In Italien fristet der Ansatz der berühmten Medizinerin ein Nischendasein und wurde erst in jüngster Zeit wiederentdeckt. Tiziana Pironi, Professorin für Geschichte der Pädagogik in Bologna, erklärt das mit der traditionellen Ausrichtung des Schulsystems und einer entsprechend großen Skepsis gegenüber reformpädagogischen Zielen. Auch in Italien seien Montessoris Ideen oft als unwissenschaftlich kritisiert worden. Dennoch hielten Millionen von Italienern und Italienerinnen Montessori einst in den Händen, ihr Gesicht lächelte freundlich auf dem 1000-Lire-Schein. Ein großer Widerspruch, sagt Pironi: "Einerseits wurde Montessori als Wissenschaftlerin zelebriert, andererseits tat man sich schwer damit, ihre Methode zu verbreiten."

© SZ vom 31.08.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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