Zum Start des neuen Schuljahres am kommenden Montag hat die Berliner Bildungssenatorin Sandra Scheeres einen Brief an die Eltern geschrieben: "Ihr Kind hat ein Recht auf Bildung und persönliche Entwicklung, auf gute Zukunftschancen", schreibt die SPD-Politikerin - und bittet sogleich um Entschuldigung: "Es kann sein, dass es dabei an Ihrer Schule in diesem Schuljahr 'ruckelt'."
Im Juni hatten die 16 Kultusminister beschlossen, nach den Ferien zum "Regelbetrieb" zurückzukehren - doch so ganz geheuer dürfte das selbst manchen von ihnen nicht sein. Und etlichen Eltern und Lehrern auch nicht. "Blauäugig" sei es, die Schulen so einfach wieder zu öffnen, sagt Stephan Wassmuth, Vorsitzender des Bundeselternrats. "Man arbeitet nach dem Prinzip Hoffnung: Wird schon irgendwie gut gehen." Ilka Hoffmann, Schulexpertin der Bildungsgewerkschaft GEW, kritisiert, die Länder verließen sich zu sehr auf Studien, wonach Schulen im Infektionsgeschehen vermeintlich keine große Rolle spielten. "Man setzt auf Normalbetrieb. Auf andere Szenarien ist man kaum vorbereitet", sagt sie der Süddeutschen Zeitung.
Stimmt das? Im vermutlich zweitungewöhnlichsten Schuljahr seit Langem brauchen die Schulen besonders klare Vorgaben und Hilfen. Ein Überblick über die wichtigsten Maßnahmen der Länder:
Mindestabstand
Mit dem Abstandsgebot von 1,5 Metern zwischen Schülerinnen und Schülern ist regulärer Unterricht kaum möglich, daher verzichten alle Länder darauf. An seine Stelle tritt das "Kohortenprinzip": Innerhalb fest definierter Lerngruppen wie dem Klassenverband können Schüler wieder normal zusammensitzen. Kommen verschiedene Gruppen zusammen, sollen sie etwa in Bayern "blockweise" sitzen - oder den Mindestabstand einhalten. Als größtmögliche Kohorte gilt zumeist ein Jahrgang, jahrgangsübergreifendes Lernen ist dann nur ausnahmsweise und bei genauer Dokumentation der Kontakte erlaubt. Mecklenburg-Vorpommern definiert etwas großzügiger, hier werden die erste bis vierte und je zwei weitere Jahrgangsstufen zu je einer Kohorte zusammengefasst.
Und die Lehrerinnen und Lehrer? Sollen den Abstand möglichst wahren, untereinander auf Konferenzen etwa, aber auch gegenüber Schülern - "sofern nicht zwingende pädagogisch-didaktische Gründe" dagegensprechen, wie es aus Bayern heißt.
So sehr sich viele Eltern über den "Regelbetrieb" freuen, so sehr bereitet ihnen auch die Nähe Sorgen. "Die Abstandsregeln aufzuheben, ist eine fatale Entscheidung", kritisiert Stephan Wassmuth vom Bundeselternrat. "Unser Wunsch wäre ganz klar gewesen: weiterhin Unterricht in kleinen Lerngruppen." Die Länder hätten die schulfreie Zeit nutzen sollen, um Räume zu finden oder Lehramtsstudenten als Verstärkung für die Kollegien zu gewinnen. Auch Ilka Hoffmann von der GEW hätte das Abstandsgebot im Klassenzimmer lieber behalten - nicht nur, um Infektionen zu vermeiden. "Viele Lehrkräfte in sozialen Brennpunkten haben uns berichtet, wie sehr die Schülerinnen und Schüler von kleinen Gruppengrößen profitiert haben."
Maskenpflicht
Seit Nordrhein-Westfalen am Montag die bundesweit strengste Maskenpflicht verordnete, nimmt die Debatte an Fahrt auf. Dort müssen Schüler an weiterführenden Schulen bis Ende August auch im Unterricht Mund und Nase bedecken. Torben Krauß, Sprecher der Bundesschülerkonferenz, hat gerade sein Abitur in NRW gemacht hat und sieht das kritisch: "Ich kann mir schwer vorstellen, wie man es acht Schulstunden lang im Sommer in einem stickigen Klassenraum mit einer Maske aushalten soll", sagt der 18-Jährige. Auf einer langen Bahnfahrt mit Klimaanlage möge das gehen, aber im Klassenzimmer ohne Lüftung? "Wenn die Pflicht auch im Unterricht gelten soll, müssen Schulen wenigstens Masken zum Wechseln bereithalten", sagt Stephan Wassmuth vom Bundeselternrat, aber eigentlich begrüßt er die Maske nur außerhalb des Unterrichts.
Doch so weit wie NRW geht bislang kein zweites Land. Zwar soll niemandem verboten werden, im Unterricht Maske zu tragen, aber im Klassenzimmer darf sie abgelegt und soll nur im übrigen Gebäude getragen werden. Berlin erlaubt sogar den maskenfreien Pausenhof, Länder wie Hessen, Sachsen und das Saarland lassen ihre Schulen selbst übers Maskentragen entscheiden. In Mecklenburg-Vorpommern, wo die Schule schon seit Montag wieder läuft und anfangs keine Pflicht geplant war, müssen Schüler ab der fünften Klasse von diesem Mittwoch an nun doch auf dem Schulgelände Mund und Nase bedecken.
Aus der Reihe tanzen Bayern und Rheinland-Pfalz, denn sie verpflichten selbst Grundschüler zur Maske im Schulgebäude. Die müssten sie nach dem sechsten Lebensjahr ja auch im öffentlichen Nahverkehr tragen, erklärt das rheinland-pfälzische Bildungsministerium auf Anfrage.
Schutz von Lehrkräften
"Wir hören von vielen Lehrkräften, die sich Sorgen um ihre Gesundheit machen", sagt Ilka Hoffmann von der GEW. Tatsächlich könnten Lehrkräfte wegen der Vielzahl täglicher Kontakte ein hohes Ansteckungsrisiko haben. In Baden-Württemberg sollen sie darum zunächst zwei kostenlose Coronavirus-Tests machen dürfen. Brandenburg plant sechs Tests, Bayern einen Reihentest zum Schuljahresstart. Alle Länder erwarten, dass viele Lehrkräfte nur aus der Ferne unterrichten können, weil sie - ärztlich attestiert - besonders gefährdet sind. Bis zu 15 Prozent Personalausfall im Präsenzunterricht reichen die Schätzungen. In mehreren Ländern sollen die Präsenzlehrer deshalb mehr Stunden leisten, sie aber nicht wie üblich im zweiten Schulhalbjahr ausgleichen, sondern erst im Jahr danach.
Schulschließungen
"Anpassungen" an das Infektionsgeschehen könnten nötig werden, heißt es jetzt aus vielen Ministerien. Folglich müssen Schulen ihr Unterrichtsangebot auf Szenarios vorbereiten: auf den Regelbetrieb mit Hygieneauflagen, auf den Hybridbetrieb mit Präsenz- und Distanzlernen, auf Quarantänemaßnahmen oder gar einen Shutdown. Wann welcher Fall eintritt, hat vor allem Bayern präzise definiert. Sein Rahmen-Hygieneplan von Ende Juli enthält ein vierstufiges Konzept: Bei einzelnen Corona-Fällen in einer Klasse oder einer Schule muss die Klasse oder Schule auf Fernunterricht umschalten. Bei mehr als 20 Fällen in sieben Tagen pro 100 000 Einwohner je Landkreis oder kreisfreier Stadt kehrt das Abstandsgebot in den Unterricht zurück - oder alle tragen eine Maske. Bei mehr als 35 Corona-Fällen in sieben Tagen entfällt der Masken-Notbehelf, dann müssen die Schulen alle Klassen teilen und abwechselnd im Klassenzimmer und auf Distanz unterrichten. Steigt die Corona-Rate auf mehr als 50 Fälle, greift Stufe vier, und es gibt nur noch das Distanzlernen - die Schultüren fallen wieder zu.
Auch Sachsen hat einen Vierstufenplan, und Thüringen geht ebenfalls gestaffelt vor, nennt dies aber "Ampelkonzept". Grün bedeutet Normalbetrieb, Gelb eingeschränkter Regelbetrieb mit verschärftem Infektionsschutz, etwa wenn ein Corona-Fall an der Schule auftritt, die Kontaktpersonen aber bekannt sind und heimgeschickt werden können. Sind Kontakte nicht nachvollziehbar, springt die Ampel auf Rot, und die Schule macht zu. So oder ähnlich könnte es letztlich überall aussehen, aber sicher ist das noch nicht. Einige Länder wollen ihre Vorgaben erst noch vorstellen, etwa Berlin und Brandenburg.
Geräte für digitales Lernen
Etliche Schüler waren beim Fernlernen eingeschränkt, weil sie weder Laptop noch Tablet haben. Nun gibt es 500 Millionen Euro vom Bund für Leihgeräte, oft wurden die Mittel aufgestockt, in Baden-Württemberg sogar verdoppelt. Viele Schulträger haben ihre Anträge bereits losgeschickt. Damit Lehrkräfte nicht mit privaten Computern arbeiten müssen, will Nordrhein-Westfalen sie mit Dienstgeräten ausstatten, als erstes Bundesland, wie Bildungsministerin Yvonne Gebauer (FDP) betonte.
Prüfungen und Lehrpläne
Manches Land steckt noch tief in der Planung, Baden-Württemberg hat schon mal die Abschlussprüfungen 2020 nach hinten geschoben - damit vom Hauptschüler bis zum Gymnasiasten jeder mehr Lernzeit hat. Schüler starten oft mit Lücken ins neue Jahr, deshalb sollen Lehrkräfte, etwa in Berlin und Sachsen-Anhalt, ihren Lernstand prüfen, bevor Schulen ihre internen Lern- und Förderpläne anpassen. An den schulübergreifenden Curricula dürfte sich eher wenig ändern, auch wenn mancher Minister den Wert der Kernfächer betont. Fächer wie Musik und Sport haben es dagegen schwer. Singen ist nur im Freien erlaubt, beim Sport wünscht sich etwa Berlin möglichst keinen Körperkontakt, Bayern fordert Trennwände zwischen Duschen. Auch an Blech- und Holzbläser hat der Freistaat schon gedacht: Das Kondensat aus Instrumenten "darf nur ohne Durchblasen von Luft abgelassen werden".