Kommunikationstraining für Medizinstudenten:Die eingebildeten Kranken

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An den meisten Universitätskliniken trainieren die Studenten Patientengespräche: hier an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. (Foto: dpa)

"Hallo, Sie haben Krebs!": So sollten Ärzte schlechte Nachrichten sicher nicht überbringen. An vielen Universitätskliniken treten daher Schauspieler als Patienten auf - damit die Studenten schwierige Diagnose-Gespräche üben können.

Von Johann Osel

Acht Minuten lang leidet Manfred Barth heute an Bauchspeicheldrüsenkrebs. Der Geschäftsmann im Ruhestand, Anfang 70, sitzt im tristen Behandlungszimmer der Klinik, ihm gegenüber der junge Arzt - die Diagnose steht bis jetzt lediglich in den Akten, gesagt ist noch kein Wort. "Ich nehme an, dass ich jetzt meine Entlassungspapiere bekomme, ist ja alles bestens", blafft Barth den Arzt an und streicht sich angriffslustig über seine Oberschenkel in Knickerbockerhosen.

Der Arzt wiederum will eigentlich schon längst gesagt haben, wie es um den Zustand des Patienten tatsächlich bestellt ist; doch das ist gar nicht so leicht, es fällt ihm erkennbar schwer, Barth in die Augen zu schauen. Er ruckelt auf dem Stuhl hin und her, als müsste er auf Toilette, unterm Tisch knetet er die Hände. Endlich kommt er doch auf "die schlechte Nachricht" zu sprechen, von Zellentnahmen ist die Rede, vom Pankreas, vom Tumor im fortgeschrittenen Stadium und von den paar Monaten, die Barth wohl noch zu leben hat. Das Wort "Krebs", ganz konkret, fällt nicht.

Und sonderlich viel wird der Mediziner in den restlichen acht Minuten auch nicht mehr sagen, denn Barth redet und redet, nein, er brüllt: dass das ja gar überhaupt nicht sein könne mit der Krankheit, dass er allerlei Verpflichtungen habe seiner Frau und Tochter gegenüber und noch viele Dinge zu erledigen im Leben. Und dass er es nicht dulden werde, wenn so ein Arzt sich einbilde, "Richter über mein Leben" zu sein. Erst gegen Ende des Gesprächs kehrt Ruhe ein, gemeinsam bespricht man, wie Zeit zu gewinnen ist, Lebenszeit.

Lernen, wie man mit dem Patienten redet, eine Krebsdiagnose eröffnet

Manfred Barth ist auch im wahren Leben Geschäftsmann im Ruhestand. Aber er hat keinen Krebs, er spielt das an diesem Tag nur. Und der Arzt, der in seinem lilafarbenen T-Shirt nur nach außen hin Unverkrampftheit ausstrahlt, ist ein Medizinstudent der Universität München. Er soll heute lernen, wie man so etwas macht: mit dem Patienten reden, eine Krebsdiagnose eröffnen. Oder besser noch: erkennen, wie man das besser nicht macht.

Kommunikative Kompetenz wurde früher Medizinern in ihrer Ausbildung praktisch kaum beigebracht. Fachwissen hinein in den Kopf des Studenten, dachte man, und irgendwie landet später im Beruf die Information schon beim Empfänger. Dabei wünschen sich Patienten laut Umfragen, dass ein Arzt mit ihnen spricht und ihnen zuhört. So sagten in einer schon etwas älteren Studie über Krebspatienten mehr als ein Drittel der Befragten, dass sie sich nicht ernst genommen fühlten und dass ihnen die Diagnose "unsensibel" übermittelt worden sei, ein Viertel fühlte sich generell schlecht über die Behandlung informiert.

Hinzu kommt eine neue Herausforderung für Ärzte: der informierte Patient. Eine Untersuchung der Techniker-Krankenkasse macht zwei Typen aus - den "Zettelpatienten", der alle medizinischen Details, richtige wie falsche, im Internet vorher recherchiert und beim Arztbesuch mitbringt; sowie den "Koryphäen-Killer", der ohnehin alles besser zu wissen glaubt und den Arzt mit überzogenen Erwartungen schlichtweg überfrachtet.

Simulanten sind hier willkommen

Die meisten Universitätskliniken, von Hamburg bis Regensburg, haben mittlerweile darauf reagiert - und bringen den angehenden Ärzten das Sprechen bei, lassen sie in geschütztem Rahmen Patientengespräche üben. Vor allem die unangenehmen. An der medizinischen Fakultät der Universität München wurden im Jahr 2007 diese Trainings im Stundenplan verankert.

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Anders als im wahren Leben sind Simulanten hier also willkommen: Die Rollen wurden ausgeschrieben, Interessenten gecastet und geschult. Teils sind es frühere Ärzte, oft aber engagierte Bürger wie Manfred Barth. Der frühere Chef eines Kaufhauses hilft auch ehrenamtlich Existenzgründern, arbeitet bei Projekten in Schwellenländern mit und mimt eben auch den Kranken im Dienste der Medizinerausbildung. Für seine eigene Karriere will er ein wenig "als Dank an Staat und Gesellschaft zurückgeben", sagt er. Manche der eingebildeten Kranken sind aber auch tatsächlich ausgebildete Schauspieler.

Zum Beispiel Simona Mai. Die zierliche blonde Frau, Jahrgang 1980, war zuletzt vor allem im "Chiemgauer Volkstheater" zu sehen, dem Tournee- und Fernsehensemble. Die Bauerstochter auf dem Hingerlhof galt es da zu spielen. In dem Schwank rund um die kratzbürstige alte Berta, eine von ihr vergötterte 150-Kilo-Sau gleichen Namens, einen trotteligen Dorfpolizisten und unzählige Missverständnisse werden einer Schauspielerin große Emotionen abverlangt, übertrieben durchdeklinierte Gefühle. Ähnliches ist auch beim Nebenjob der Schauspielerin gefragt. Wobei Simona Mai an diesem Tag kerngesund bleiben darf. Sie simuliert in der Szene zusammen mit einem Schauspieler, der ihren Vater mimt, eine Angehörige. Denn auch die Kommunikation mit diesen kann Ärzte auf Trab halten.

Jeder Schauspielpatient hat normalerweise ein paar Rollen auf Lager, die Einsatzplanung zu Beginn des Seminarnachmittags ist kurios. Hier der Krebs, dort die HIV-Infektion, die Schilddrüsenkrankheit, Diabetes. Sechs Studenten und ein Dozent sitzen pro Gruppe dann im Behandlungsraum, einer führt jeweils das Gespräch, die anderen schauen zu, dann wird gemeinsam analysiert.

Mai ist nun also eine Tochter, die Mutter der jungen Frau ist halbseitig gelähmt, der Zustand hat sich zuletzt dramatisch verschlechtert, sie soll ins Pflegeheim - darüber muss eine Studentin mit den Angehörigen, Tochter und Ehemann, sprechen. Die angehende Ärztin gibt eine recht gute Figur ab, spricht gelassen, schaut beiden Schauspielern in die Augen, unterstreicht mit Händen jede Aussage. Als sie erwähnt, dass die Familie womöglich nicht imstande sein werde, sich zu Hause um die Gattin zu kümmern, beginnt das Donnerwetter. Und was für eins.

"Ein Heim, das ist ja wie ein Gefängnis", krakeelt der Vater und beginnt prompt einen Streit mit Simona Mai. Die Tochter solle sich gefälligst kümmern, sie habe ja immer "in Saus und Braus gelebt", sei nie für ihre Eltern da gewesen und müsse jetzt endlich mal was leisten. Mai kontert mit einem Gefühlsausbruch, wie er gut und gerne auf den Hingerlhof im Lustspiel passen könnte, wenn das ländliche Liebesleben seine Blüten treibt. Ihre Stimme wird höher, schriller, entsetzt reißt sie die Augen auf, schnappt nach Luft, kämpft mit den Tränen. "Üüüüüch, in Saus und Braus gelebt? Ich habe selbst zwei Kinder, hab' mir immer den Arsch aufgerissen." Eine niederbayerische Färbung schimmert in der Sprache durch.

Blickkontakt, Fragen stellen, den Patienten ernst nehmen

Es wird noch einiges an schmutziger Familienwäsche gewaschen, doch die angehende Ärztin bekommt die Lage in den Griff. Sie habe dem Konflikt Raum gelassen, aber zugleich das Gespräch nicht aus der Hand gegeben, loben die Mitstudenten anschließend in der Feedback-Runde. Mai notiert in ihrem Protokoll, sie habe sich "sehr wohl gefühlt", der ständige Blickkontakt mit der Ärztin, der beruhigende Ton. "Bei der Bewertung der Studenten muss man behutsam vorgehen", lautet ihre Devise, "am besten mit etwas Positivem anfangen und die Kritik nicht persönlich auslegen." Schließlich könne man bei den jungen Leuten "ganz viel kaputt machen", ihnen gar den Traumberuf madig machen.

Auch die Dozentin des Kurses, eine Ärztin, scheint mit dieser simulierten Sprechstunde ganz zufrieden zu sein. "Es gibt keine Optimallösung; ob ein Gespräch gut klappt, hängt immer am Arzt und am Patienten", sagt sie. Ein paar Grundregeln gibt es aber: Blickkontakt eben, dem Patienten Fragen stellen und ihn ernst nehmen, kurzum: als Mensch vorhanden sein.

"Wir sollen ja nerven und auch mal die Durchgeknallten spielen. Ich denke privat jetzt aber schon mehr darüber nach, was man beim Arzt so daherredet", sagt Mai, beteuert aber zugleich, wie sehr sie mit ihrem Hausarzt in München zufrieden sei. "Es ist toll, dass man den Studenten helfen kann. Viele tun sich schwer mit der Kommunikation." Aber Mai macht den Job auch aus eigenem Interesse. Nicht unbedingt des Geldes wegen, übers Semester verteilt sind das ein paar Hundert Euro; sondern weil sie Improvisationstheater üben kann, alle acht Minuten mit neuen Akteuren konfrontiert. "Da bleibt man im Training."

Fachlich gut, aber "zu bürokratisch"

Übungen mit anderen Studenten als Patienten gibt es im Studium auch, "doch das mit den Schauspielern ist schon etwas anderes, authentischer, man ist aufgeregter", sagt ein junger Mann aus der Studentengruppe. Der 22-Jährige hat sechs Semester Medizin hinter sich. Er will, wie alle seine Kollegen, anonym bleiben. Schon zum Studienbeginn werde man zur Verschwiegenheit erzogen, deswegen soll auch das Training nicht mit echten Namen in der Zeitung stehen. Er kenne Patientengespräche bereits aus der Praxis. Das Training sei hilfreich, aber vielleicht in seinem Fall gar nicht so unbedingt nötig, meint der junge Schlacks mit der Brille. "Aber man lernt auf alle Fälle, sich Strategien für die Kommunikation zurechtzulegen."

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Wobei seine Patientin ein harter Fall ist: eine völlig konsternierte Schauspielerin, der eine HIV-Infektion mitzuteilen ist. Die Frau bietet ihm keine Chance, sie zu trösten oder ihr die Therapie zu erklären. Er schaut sie an, fixiert sie fast, spricht so langsam, als würde er buchstabieren. Aber sie schaut ständig zu Boden. Es entstehen Pausen von fast einer Minute, das Schweigen lässt diese wirken wie eine Viertelstunde. Und die Anmerkung des Studenten, dass die Infektion heute nicht schlimmer sei als Bluthochdruck, rettet die Situation nicht. "Zu bürokratisch" und zu schnell sei er vorgegangen, stellt die Feedback-Runde fest, fast wie "Hallo, Sie sind HIV-positiv!" Fachlich habe sie sich gut aufgehoben gefühlt, sagt die Patientin, aber "mehr Wärme" hätte sie sich gewünscht. Da sei er "nicht so der Typ dafür", meint der Student im Nachhinein. Den Vergleich mit dem Bluthochdruck werde er künftig meiden.

Emotionen garantiert

Das Training jedenfalls kommt gut an: In einer Umfrage der Uni gaben 75 Prozent der Teilnehmer an, konkret Tipps für Arztgespräche mitgenommen zu haben. Barth geht gleich zur Studentengruppe ins Nebenzimmer, acht Minuten Krebs stehen auch dort an. Die Studentin im Behandlungszimmer dort lässt sich nicht den Schneid abkaufen. Nicht mal von der scharfen Frage, ob sie "überhaupt eine richtige Ärztin" sei. Allerdings wird bei der Auswertung des Gesprächs debattiert, ob es passend sei, wenn eine Ärztin dem Patienten so gar keine Hoffnung macht. Hoffnung geben, wo gar keine Hoffnung ist - soll man das? "Vier bis fünf Monate noch. Das ist leider die Realität, Herr Barth", so direkt hatte ihm das die Studentin verklickert.

Für Simone Mai ist der Einsatz an diesem Tag dagegen zu Ende, für die kommende Woche ist sie wieder gebucht. Dann nicht als Angehörige, sondern tatsächlich krank. Als uneinsichtige Diabetespatientin, die ihren Lebenswandel partout nicht den Umständen anpassen will. Reichlich Emotionen sind da garantiert.

© SZ vom 23.09.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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