Islamunterricht:Ist die Gülen-Bewegung wirklich harmlos?

Lesezeit: 6 Min.

Über Nachhilfe und Studenten-WGs bindet die Gülen-Bewegung in Deutschland Schüler an ihr frommes Netzwerk. Wer einmal drin ist, erlebt Anerkennung - und findet kaum wieder heraus.

Von Stefanie Schoene

Serkan ist ehrgeizig. Schon mit 16 wusste er, dass er Ingenieur werden will. Der Schüler meldete sich in seiner Stadt in einem Nachhilfeinstitut mit türkischstämmigen Lehrern und Schülern an. Als er 2016 dort einen Hinweis auf eine Studenten-WG bekam, die ihn ebenfalls unterstützen würde, zog er von zu Hause aus. Die Eltern waren nicht begeistert, zahlten ihm aber die geringe Miete.

Was Serkan*, heute 18, nicht ahnte: Er war in einem "Lichthaus" gelandet, einer Studentenwohnung, die zum verborgenen Teil des religiösen und sozialen Netzwerks um den islamischen Geistlichen Fethullah Gülen gehört. "Erst war es cool", berichtet Serkan. "Ich hatte mein eigenes Zimmer, ging weiter zur Nachhilfe, konnte danach noch die Studenten fragen." Merkwürdig kam es ihm erst vor, als fremde Männer im Haus einquartiert wurden. Sie waren, wie auch der Leiter seines Nachhilfeinstituts und die WG, Gülen-Anhänger, kamen meist aus der Türkei und hatten Termine in der Region oder bezogen dort Posten.

Die Gülen-Bewegung, die sich selbst "Hizmet" (Dienst) nennt, ist in Deutschland seit Mitte der 1990er-Jahre aktiv. Wie in der Türkei spann sie auch hier ein Netz aus Unternehmen, Schulen, Vereinen, Lichthäusern, Kindergärten, Verlagen und einer Zeitung. Offiziell wurden diese als Einzeleinrichtungen dargestellt. Dass sie zu einem internationalen Geflecht gehörten, stritten lokale und regionale Verantwortliche gegenüber Kommunen und der Presse stets ab.

Das änderte sich erst 2016, nach dem Putschversuch in der Türkei. Für diesen machen Regierung und Opposition das Netzwerk verantwortlich, die Bewegung gilt jetzt als türkische Terrororganisation, die etwa sieben Millionen Anhänger weltweit werden gejagt. Außerhalb der Türkei stoßen die Massenverhaftungen auf Empörung. Der Chef des Bundesnachrichtendienstes, Bruno Kahl, bezeichnete die Bewegung als "zivile Vereinigung zur religiösen und säkularen Weiterbildung".

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Informationen dringen nur über Dissidenten nach außen

Doch ob sie wirklich so harmlos ist, darf bezweifelt werden. In Berlin ist inzwischen die Stiftung Dialog und Bildung zentraler Ansprechpartner für die Öffentlichkeit. Sie produziert Bücher, der Vorstand verspricht auf Lesungen Transparenz und demokratische Werte. Doch nach wie vor dringen Informationen über Abläufe und Hierarchien im Innern der Bewegung nur nach außen, wenn Dissidenten berichten. Erstmals gehen jetzt auch Jugendliche an die Öffentlichkeit. Gegenüber der Süddeutschen Zeitung berichteten sie vom Druck hinter den Kulissen, von autoritärem Fanatismus und wie die Väter ihre Familien der Bewegung geopfert haben.

Das Lichthaus, in dem Serkan zwei Jahre lang wohnte, ist kein Einzelfall. Lichthäuser gibt es in jeder größeren deutschen Stadt seit Mitte der 90er-Jahre. Wie viele es sind, sei unbekannt, da sie "privater Wohnraum" seien, wie es aus Führungskreisen der Bewegung heißt. "Licht" steht im türkischen Sufismus für Erleuchtung und Wissen. Die WG-Bewohner sind Gülens "Goldene Generation", eine muslimische Elite, die die Welt gebildeter und besser machen soll.

Zentrale Rituale der Lichthäuser - wie der Bewegung insgesamt - sind neben dem täglichen, fünfmaligen Beten das mehrstündige Sohbet (Gespräch): Koranstudium, Vorträge, Lektüre der Predigten und Koranauslegungen von Fethullah Gülen. Die Aktivitäten in den Häusern für Männer koordiniert ein "Abi" (großer Bruder), in Häusern für Frauen eine "Abla" (große Schwester). Abis und Ablas bilden auf Haus-, Regional- Landes- und Bundesebene eine Hierarchie, über die sich die Bewegung ausschweigt.

Serkan, zwei weitere Jugendliche und eine Lehrerin geben Hinweise darauf, dass die Nachhilfeinstitute der Bewegung als Vorfeldorganisationen für den inneren, streng religiösen Zirkel fungieren. Einmal drin, locken Anerkennung und Aufstiegsmöglichkeiten, sollen die Jugendlichen bei der Stange halten. Vor allem Kinder, deren Eltern selbst zum Netzwerk gehören, finden aus eigener Kraft kaum noch heraus.

In Serkans Lichthaus war der tägliche Islamunterricht von 18 bis 23 Uhr Pflicht. Langweilig war das, sagt er: "Ich habe dieses alte Türkisch der Gülen-Texte nicht verstanden. Aber Antworten auf Fragen oder Diskutieren war nicht angesagt in der WG." Als er einmal spät nach Hause kam, weil er noch mit einer Nachhilfelehrerin geübt hatte, hielt der Abi ihm eine Standpauke: Serkan habe mit einer ledigen Frau Zeit verbracht und auch noch das Sohbet verpasst. Die Stiftung Dialog und Bildung sagt auf Nachfrage dazu: "Der Fall ist uns nicht bekannt. Freiwilligkeit ist die wichtigste Voraussetzung für jegliches Engagement."

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Serkan glaubt an Gott, Glaubenspraxis stellt er sich jedoch anders vor. Seltsam fand er auch das gemeinschaftliche Weinen der Studenten beim Hören von Gülen-Predigten. Der Prediger hatte schon früher in der Türkei seine Zuhörer auf öffentlichen Plätzen zu Hunderttausenden zum Weinen gebracht.

Während Serkans zweijährigen Aufenthalts verschärften sich die Regeln. Chatten mit Mitschülerinnen und unangemeldete Besuche von Freunden waren verboten. Sonntags fuhr die ganze WG zu sogenannten Camps, Freizeiten mit Lesewettbewerben und Sohbets in andere Lichthäusern im Umkreis von etwa 200 Kilometern. Wenn andere fragten, was in der WG so läuft, sollte er sagen: Lernen, Spielen, Chillen und Fußballspielen.

"Love Bombing": Anwerben mit Lob und Freundlichkeit

Samstags kamen Schüler aus dem örtlichen Nachhilfeinstitut in Serkans WG. Auch wenn die Bewegung das abstreitet: Religionsunterricht für Kinder ist in den Lichthäusern Standard. Eine Studentinnen-WG in Bayern etwa betreute 80 Mädchen pro Woche. Auch Aişe*, eine ehemalige Lehrerin, hielt Sohbets für sieben- bis 14-jährige Mädchen in WGs ab. Sie musste die Kinder auffordern, in einer Art Wettbewerb neue Schüler anzuwerben. Den Studentinnen wurden dort ledige Männer aus der Türkei für die Ehe vorgestellt, berichtet die 40-Jährige: "Für die meisten war danach das Studium passé."

Acht Jahre half Aişe der Bewegung zu wachsen, warb um Mitglieder und Geld. "Die Vorsteherinnen gaben mir Telefonlisten, ich sollte jede Woche fünf Familien anwerben." Der Druck wurde der Lehrerin zu groß, Kritik war unerwünscht, das Netzwerk kam ihr schließlich wie eine Sekte vor. 2014 stieg sie aus.

Doch zu Ende war es damit nicht. Schon mehrmals seien Frauen in der Schule ihres Sohnes aufgetaucht, um ihn für den Islamunterricht der Bewegung zu gewinnen - mit Freundlichkeit, Lob und Aufmerksamkeit. "Love Bombing" nennen Sektenexperten diese Art von Erstansprache. "Leider ist er dafür nicht ganz unempfänglich", sagt die Pädagogin. Jetzt überlegt sie, in eine andere Stadt zu ziehen.

Wie schwierig oder gar gefährlich Ablösungsversuche für Jugendliche sein können, zeigen Deniz*, 18, und Ayhan*, 16. Erst nach einigen Anläufen kommen Treffen mit ihnen zustande. Namen, Heimatstädte und Bundesländer sollen ungenannt bleiben, damit sie nicht erkannt werden. Beide Jungen haben Angst vor ihren Vätern, strammen Gülen-Anhängern. Über die Väter waren die Schüler automatisch "drin".

Deniz nahm schon mit sieben an "Camps" teil. Wer dort still für sich die meisten Seiten aus Gülens Büchern las, bekam Geld geschenkt. Diskutiert wurde die Lektüre nicht, aber auf dem Plan, in den die Kinder ihr Pensum eintrugen, stand: "Wer lügt, kommt in die Hölle". Die Dialog-Stiftung sagt, dies entspreche nicht "der Pädagogik und den Werten unserer Einrichtungen".

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"Ich fühlte mich heimisch, weil eben alles türkisch war"

Ayhan war neun, als er für das muslimische Sohbet ausgewählt wurde. Nach einer anstrengenden deutschen Schulwoche freute er sich auf die Besuche in der Studenten-WG, sagt er: "Ich fühlte mich dort heimisch, weil eben alles, die Kelims, die Kissen, türkisch war." Als er elf war, wollte er nicht mehr, es hatte Stress wegen Kontakten zu Mädchen gegeben. Doch sein tiefreligiöser Vater bestand darauf, dass er seine Besuche im Lichthaus fortsetzte.

Etwa 50 Prozent seines Lohnes gebe der Vater an den Gülen-Verein ab, schätzt Ayhan. Lehrerin Aişe weiß ebenfalls von Spenden. Auch der Mann einer Verwandten habe die Hälfte seines Gehalts abgeführt, die Frau ließ sich deshalb scheiden. Ein Nachhilfelehrer wiederum erzählt, ihm sei geraten worden, wie seine Kollegen 40 Prozent seines Honorars zurück zu spenden.

Die islamische Almosenverpflichtung gibt der wirtschaftlichen Potenz des Netzwerks eine sichere Basis. In der Türkei hatten Gülen-Kader Ministerien, Bildung, Justiz und Polizei und auch Teile des Militärs durchsetzt. Ganze Holdings der Bau- und Textilbranche und nicht zuletzt eine Bank investierten ihre Gewinne in die Krankenhäuser, Schulen und Universitäten der Bewegung. Der Prediger selbst ging 1999 in die USA, nachdem das türkische Militär ihn beschuldigt hatte, er habe seine Anhänger aufgefordert, unauffällig Schlüsselpositionen im Staat zu besetzen.

Ayhan und Deniz haben ihre Väter an die Bewegung verloren. In Ayhans Familie kam es zum Eklat, die Mutter stand zum Sohn, der Vater wurde gewalttätig. "Meine Mutter war so mutig. Ohne sie hätte ich das nicht geschafft. Aber meine Familie ist zerstört", sagt Ayhan.

Auch Deniz schaffte den Absprung mithilfe seiner Mutter vor vier Jahren. Sein Vater ließ sich daraufhin scheiden. Er sei immer noch ein "hohes Tier", sagt Deniz, er hat Angst vor Repressionen. "Er hat uns geopfert für das Netzwerk. Nach außen zeigt es sich als religiös-liberale Bildungsbewegung, nach innen aber ist es fanatisch." Deniz will, dass die Öffentlichkeit davon erfährt.

*Namen geändert

© SZ vom 08.04.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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