Inklusion von Menschen mit Behinderung:Soziale Stärke

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Inklusion - ein Modewort? Ja, gewiss. Aber bei der Eingliederung von behinderten Menschen in die Alltagswelt geht es um mehr: um Demokratie und Grundrechte. Und darum, dass Hilfebedürftigkeit zum Menschsein gehört.

Ein Kommentar von Heribert Prantl

Inklusion ist ein Modewort geworden. Es geht dabei aber nicht um Modisches, sondern um Wichtiges, um Demokratisches: um die Eingliederung der Menschen mit Behinderung in die normale Alltagswelt - so gut es nur geht. Inklusion heißt Abbau von Barrieren und Zugänglichkeit - und zwar nicht nur zu Gebäuden und Verkehrsmitteln. Es ist kein bautechnisches, sondern ein gesellschaftspolitisches Prinzip. Gemeint ist die Zugänglichkeit der Gesellschaft insgesamt, die Integration im Arbeits- und Freizeitleben. Inklusion heißt Anerkennung und Wertschätzung für Menschen mit Behinderungen.

Das ist ein gewaltiger Anspruch, das ist ein hochgestecktes Ziel. Es ist eine Realvision - die das Grundgesetz seit 20 Jahren, seit 1994, so formuliert: "Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden." Und die UN-Behindertenrechtskonvention, also das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, buchstabiert dieses Grundrecht durch. Deutschland hat diese Konvention vor fünf Jahren ratifiziert. Knapp zehn Millionen Menschen in Deutschland leben mit einer Behinderung, das sind fast zwölf Prozent der Bürgerinnen und Bürger. Für sie gilt das Behindertengrundrecht - das Grundrecht auf Inklusion.

Inklusion kann nicht zwangsweise verordnet werden

Inklusion: Gehörlose Menschen sind ohne Gebärdensprachendolmetscher oder technische Hilfsmittel von lautsprachlicher Kommunikation ausgeschlossen. Für Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen stellen oft schon starre Regelungen und Fristen eine Barriere dar. Wenn es um Inklusion geht, geht es also nicht einfach nur um Auffahrtsrampen für Rollstuhlfahrer. Inklusion heißt auch nicht einfach, dass man Kinder mit Behinderung wieder in normale Schulklassen steckt. Die bloße Anwesenheit eines Kindes mit Behinderung in einer Regelklasse bewirkt nicht viel; oft bewirkt sie sogar das Gegenteil von dem, was man sich erhofft. Wenn nicht mehr passiert als räumliche Eingliederung, wenn es dann keine gezielte Förderung gibt - dann ist solche Integration leere Präsentation, die Demotivation und Resignation zur Folge hat.

Inklusion kann man, das zeigt sich in der Schule besonders, nicht einfach zwangsweise verordnen - "ab morgen Inklusion": Das ist ein mühevoller, sensibler Lernprozess für alle Beteiligten, für behinderte und nichtbehinderte Kinder, ihre Lehrer und Eltern - und für die Schulbehörden; diese müssen lernen, dass Inklusion kein Sparmodell ist. Inklusion bedeutet nicht einfach, dass man sich das Geld für Förderschulen sparen kann. Inklusion bedeutet, dass dieses Geld und noch viel mehr Geld für individuelle Förderung an den Regelschulen eingesetzt werden muss. Derzeit ist es dort so, dass die wenigen Sonderpädagogen von Klasse zu Klasse hopsen. Das ist nicht Inklusion, das ist Konfusion.

Der Sozialstaat als Schicksalskorrektor

Demokratie ist ein gesellschaftliches Betriebssystem - eines, bei dem alle, die in einem Land wohnen, etwas zu sagen haben, auch diejenigen, die nichts sagen können, weil sie eine Behinderung haben, die ihnen das Sprechen verwehrt. Demokratie heißt: Jeder hat eine Stimme, keiner ist mehr wert als der andere. Demokratie und Sozialstaat gehören zusammen. Warum? Die besseren Gene hat sich niemand erarbeitet, das unfallfreie Leben auch nicht. Das Schicksal teilt sie zu. Hier hat der Sozialstaat seine Aufgabe. Er ist, mit Maß und Ziel, Schicksalskorrektor.

Das Grundrecht für Behinderte erinnert einen an das Schicksal des Satzes "Männer und Frauen sind gleichberechtigt." Er steht seit 1949 im Grundgesetz, aber die Männer warfen erst einmal ihr Sakko darüber. Das Bundesverfassungsgericht musste immer wieder eingreifen und den Gesetzgeber mahnen. Das zeigt: Verfassungsrechtliche Postulate allein helfen gar nichts, wenn sie nicht ins Alltagsrecht übersetzt werden. Für Behinderte muss es also einen Nachteilsausgleich geben, der diesen Namen verdient; dazu gehört die Förderung der sozialen Werkstätten und der Integrationsfirmen. Letzteres sind Firmen des allgemeinen Arbeitsmarktes, in denen schwerbehinderte Menschen arbeiten.

Arbeitslose, Flüchtlinge, Menschen mit Behinderungen. Oft fasst man sie unter dem Label "sozial Schwache" zusammen. Das ist ein törichter Begriff, weil die asozialen Reichen die eigentlich sozial Schwachen sind; viele Arme und Behinderte bringen dagegen ungeheure soziale Stärke auf, um ihr Leben gebacken zu kriegen. Ein starker Staat ist ein Staat, der das Inklusions-Grundrecht ernst nimmt. Inklusion verlangt eine Zeitenwende. Sie wird viel Geld kosten. Aber sie wird die Gesellschaft wunderbar verändern - wenn die Gesellschaft erkennt, dass Hilfebedürftigkeit keine Störung ist, sondern zum Menschsein gehört.

© SZ vom 16.06.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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