Erster Schultag:Päckchen zu tragen

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Die sechsjährige Viviane hat noch viele Prüfungen vor sich - den großen Schulranzentest hat sie aber schon mal bestanden. (Foto: Natalie Neomi Isser)

Einen Schulranzen für seine Tochter zu kaufen, sollte eigentlich ganz einfach sein. Inzwischen ist daraus aber fast eine Wissenschaft geworden.

Von Christian Mayer

Manchmal möchte man doch dem Himmel danken. Dafür dass es noch Fachgeschäfte gibt, ganz analoge Orte, in dem ganz reale Menschen anderen Menschen weiterhelfen, wenn sie überfordert sind. Und die Leute möchte man sehen, die bei einer hochkomplexen Sache wie dem Schulranzenkauf nicht überfordert sind; denn der Schulranzenkauf ist heute eine Wissenschaft für sich, eine Entscheidung von, nun ja, enormer Tragweite.

"Wer Mitte August noch keinen Schulranzen für sein Kind hat, das im September in die erste Klasse kommt, ist eigentlich ziemlich spät dran", sagt Ute Arendt, die Chefin des Familienunternehmens Weber im Münchner Glockenbachviertel, gleich mal vorab. Allerdings haben sie beim Weber ohnehin fast das ganze Jahr über aufgeregte Kunden, die ein geeignetes Gepäckstück für den sensiblen Nachwuchs suchen.

Es geht schon an Weihnachten los, auch in den Osterferien treibt viele Eltern die Frage um, welcher Schulranzen denn nun der richtige ist, und jetzt im Hochsommer? "Sie müssten nur mal am Samstag kommen - da sind dann ganze Großfamilien bei uns, das Schulkind, die Geschwister, die Eltern und Opa und Oma."

Modell, Gewicht, Form - das interessiert nur die Erwachsenen

In diesem Fall stehen nur drei Personen vor dem Regal, die knapp sechsjährige Viviane, ihre elfjährige Schwester und der Vater. Was soll's denn nun für ein Modell sein, was für ein Gewicht, was für eine Form? Das sind so die wesentlichen Fragen - für einen Erwachsenen. Für die Kinder sind andere Kriterien entscheidend, zum Beispiel, ob auf der Außenhaut des Ranzens jetzt Dinosaurier, Ritter oder Prinzessinnen abgebildet sind.

Wobei letztere im Fachgeschäft unserer Wahl zum Glück schon mal aussortiert wurden: "Also, diese Lillifee-Schulranzen haben wir gar nicht mehr im Sortiment", sagt die Chefin. "Die sind nicht so toll - wir haben keine Lust auf Reklamationen, wenn sich schon nach ein paar Wochen herausstellt, dass das Ding nichts taugt." Die Gewissheit steigt, im richtigen Geschäft zu sein, weil hier offenbar nicht jeder Kinderwunsch sofort erfüllt wird.

Heute schleppen Grundschüler so viele Unterlagen mit wie ein Anwalt beim Insolvenzverfahren

Erst mal gibt es, psychologisch sehr geschickt, einen Rollentausch. Viviane testet, wie alle Mädchen in diesem Geschäft, einen typischen Jungs-Ranzen auf seine Tragfähigkeit. "Die Buben kriegen dafür die Mädchen-Modelle - damit sie nicht sofort von ihren Lieblingsmotiven abgelenkt sind", sagt die Inhaberin. So kann man in Ruhe einen Lauftest machen und kontrollieren, ob das Kind nicht wie eine Betrunkene nach hinten weg kippt, weil sie der Ranzen aus dem Gleichgewicht bringt.

Ute Arendt stockt dazu aber noch das Gewicht auf, sie steckt einen dicken Katalog, der etwa die Größe eines alten Großstadt-Telefonbuchs hat, mit hinein - ein Test unter Realbedingungen, um Haltungsschäden zu vermeiden. Heute müssen ja schon Grundschüler so viel Unterlagen, Bücher und Hefte mitschleppen wie ein Firmenanwalt beim Insolvenzverfahren.

Der kleine Tommy, der gerade seinen Test mit dem Mädchen-Ranzen macht, braucht jedenfalls eindeutig ein leichteres Modell, den 800-Gramm-Ranzen. Und natürlich den Hüftgurt, der eng anliegen muss, wie Ute Arendt sagt: "Damit kann man locker 30 Prozent Masse vom Rücken auf die Hüfte schieben."

Viviane hat die erste Prüfung hinter sich, auch für sie kommt nur das leichte Modell infrage. Dass das gute Stück zu hundert Prozent aus wiederverwerteten Kunststoffflaschen besteht, ist der Sechsjährigen ziemlich wurscht, genauso wie der Preis, der bei vielen Komplett-Sets mit dem obligatorischen Krimskrams schnell mal bei 200 Euro und mehr liegt. Ein Wahnsinn. Aber es soll ja immer nur das Beste sein für das Kind.

Wie war das früher? Man erinnert sich an seine eigene Schulzeit und die Ranzen mit den Lederriemen, die im Lauf der Jahre immer speckiger und brüchiger wurden. Die Soldaten im Dreißigjährigen Krieg hatten ähnliche Tornister, als sie lange vor der Reformpädagogik gegen die Schweden kämpften. Der Ranzen war so was von ranzig, wenn man damit zu oft in den Regen gekommen war und das Pausenbrot darin vergessen hatte, das übers Wochenende vor sich hinmoderte.

An seiner eigenen Schulranzen-Historie merkt man, wie alt man wirklich ist: Erst gegen Ende der Siebzigerjahre überschwemmten die kreischend bunten Kunststoff-Modelle den Markt, auf einmal trugen alle nur noch Scout, das Markenprodukt aus der Pfälzer Provinz, das genau in die Zeit passte, die dann vom Kanzler aus Ludwigshafen-Oggersheim geprägt wurde.

Die DIN-Norm 58124 wurde für sicherheitsbewusste Eltern geschaffen

Kinder wie Viviane, die in Merkel-Deutschland geboren sind, haben im Vergleich zu ihren Eltern einige Vorteile. Sie können, zum Beispiel, auf den mitwachsenden Schulranzen zurückgreifen. Fast alle neuen Modelle haben ein verstellbares Innenteil. Überaus praktisch, weil die Kinder in die Höhe schießen, während der Ranzen im Laufe der Schuljahre in die Breite wächst.

Und dann ist ja da auch noch die Sache mit der Norm. Genauer gesagt: mit der DIN-Norm 58124, die vor allem für jenen stark wachsenden Teil der Eltern geschaffen wurde, die jeden Schritt ihrer Kinder überwachen, selbst wenn sie vehement bestreiten würden, Sicherheitsfanatiker zu sein.

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Mindestens 20 Prozent der sichtbaren Fläche des Schulranzens muss mit fluoreszierendem Material in den Farben Orange-Rot und Gelb bedeckt sein - mit Reflektoren, damit die Kinder auf dem Schulweg auch bei schlechtem Wetter jedem Autofahrer auffallen. Kann man sich als verantwortungsbewusster Vater dem Diktat der DIN-Norm 58124 verschließen? Natürlich nicht, man ist doch nicht lebensmüde.

Viviane hat es geschafft. Vor ihr stehen sechs Schulranzen: normiert, verstellbar, ultraleicht. Die schwierigste Prüfung für Eltern und Kinder kommt bekanntlich immer zum Schluss, wenn es darum geht, wer das Rennen macht. Viviane entscheidet sich für ein negatives Ausschlussverfahren: Als Erstes kommt der psychodelische Ranzen im Siebzigerjahre-Look weg, dann der mit den violett-roten Karos, da sind es nur noch fünf. Das Kind hat Geschmack, das muss man ihm lassen! Kanariengelb, giftgrün - auch diese Modelle sortiert Viviane nach längerer Bedenkzeit aus.

Wer wird eigentlich eingeschult: die Eltern oder das Kind?

Am Ende stehen der blaue Ranzen vor ihr und der rote mit den aufgemalten Wellen. Eene, meene, miste. . . Der blaue hat gewonnen! Dazu gibt es auch noch, Schule soll ja Spaß machen, die abnehmbaren bunten Sticker, die man täglich neu auf seinen Ranzen kleben kann. Viviane mag die Katzen lieber als die Vögel, nimmt dann aber doch die Hunde und ist nun insgesamt sehr zufrieden mit sich und der Welt.

So viel zur Frage, ob Kinder in Deutschland genügend Freiheit haben; die Wahlfreiheit zumindest haben sie jedenfalls, vielleicht manchmal etwas mehr, als ihnen guttut. Man muss den Tatsachen auch ins Auge sehen: In spätestens drei Jahren wird dieser Porsche unter den Ultraleicht-Modellen den Charme eines zerbeulten Fiats haben, und Viviane wird ganz bestimmt ein viel cooleres Modell im Glam-Rock- oder Graffiti-Stil einfordern, weil alle anderen in der Klasse auch so was haben.

Am Ende setzt sich immer das Kind durch

"Vor zwei Tagen gab es hier ein Riesendrama", erzählt Ute Arendt. Eine Sechsjährige hatte sich in einen Schulranzen mit Schmetterlingen verknallt. Sie musste ihn haben, unbedingt, aber die Mutter favorisierte einen dieser modischen Retro-Rucksäcke, die vielleicht Designpreise, aber nie die Zustimmung einer Sechsjährigen gewinnen würden. Lange Debatte, Genörgel, Geheule, Mutter und Tochter verließen den Laden, bisher sind sie nicht mehr aufgetaucht. Kommt gar nicht so selten vor, dass die Verkäufer im Fachgeschäft irgendwann nicht mehr sicher sind, wer denn nun eingeschult wird, die Eltern oder das Kind.

Die beiden werden wiederkommen, da ist sich die Chefin sicher, spätestens nachdem sie drei Tage lang im Internet gefahndet und nichts Besseres gefunden haben. "Und dann setzt sich die Tochter durch. Das ist immer so."

© SZ vom 22.08.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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