Digitalisierung und Schule:"Das Tablet ist nur Mittel zum Zweck"

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Individuelle Lektionen im Stillarbeitsraum der Beatrix-Schule in Steenwijk: Die Achtklässler Chris und Dylan lösen Mathematikaufgaben, der Sechstklässler Nathan (rechts) übt niederländische Grammatik. (Foto: Fabian Busch)

Die Steve-Jobs-Schulen in den Niederlanden wurden als Vorbild für die digitale Zukunft des Lernens gefeiert. Doch nun das Modell steckt in der Krise.

Von Fabian Busch

Grün, orange oder pink sind die Gummihüllen der iPads an der Beatrix-Schule im niederländischen Steenwijk. Jeder Schüler ab der dritten Klasse bekommt von der Grundschule ein eigenes Gerät. Der Tag beginnt im Klassenverband, die Schüler tauschen sich dort mit ihren Lehrern aus. Dann verteilen sie sich auf Workshops. Jedes Kind löst seine eigenen Aufgaben, passend zum Lernniveau und häufig auf dem iPad. In einem Klassenraum liegen die Computer an diesem Vormittag noch auf den Tischen, die Lehrerin übt an der digitalen Tafel mit der Klasse lesen. Im Stillarbeitsbereich nebenan sind die Schüler Chris, Dylan und Nathan in ihre Aufgaben versunken. Kurz erklären sie, womit sie sich beschäftigen: Grammatik und Rechnen. Dann machen sie weiter.

Vor drei Jahren hatten sich Lehrer und Eltern der Schule zwei Fragen gestellt: Wie sieht die Welt in 20 Jahren aus? Und wie müssen wir die Schüler darauf vorbereiten? Obwohl die erste Frage schwer zu beantworten war, wurde den Beteiligten klar: Sie wollten den Unterricht an der Grundschule umkrempeln. Kinder sollten so lernen, wie es zu ihrer Persönlichkeit passt. Sie sollten ihre Stärken finden, selbständig werden, aber auch mit anderen zusammenarbeiten. Und Tablet-Computer sollten sie dabei unterstützen. "Die Digitalisierung hilft bei unserem Lernmodell enorm", sagt Schulleiter Jan Oosterhof. Jedes Kind bekomme die zu ihm passenden Aufgaben, der Lehrer könne den Fortschritt des Einzelnen genau verfolgen. Die Entscheidung stellte im Leben der Kinder neue Weichen für immerhin acht Jahre - so lange dauert die Grundschule in den Niederlanden.

Die Beatrix-Schule hat eine Zeit gebraucht, bis sie das passende Modell gefunden hat. Ein halbes Jahr lang hatte sie sich den Steve-Jobs-Schulen angeschlossen, die über die Grenzen der Niederlande hinaus für Schlagzeilen sorgten. Doch inzwischen ist deren Konzept in die Krise geraten. Jan Oosterhof ist nicht der einzige Rektor, der sich davon wieder verabschiedet hat.

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Erfunden hatte die Steve-Jobs- oder iPad-Schulen der niederländische Meinungsforscher Maurice de Hond. Er war unzufrieden mit dem altmodischen Unterricht an der Schule seiner Tochter - und entwickelte 2012 mit Bildungsexperten das Manifest "Unterricht für eine neue Zeit", kurz O4NT. Ein Konzept für Schulen, in denen das Kind vor allem auf dem iPad lernt, sich seine Workshops selbst auswählt, unterstützt von Lehrern, die sich als Coach verstehen. Die Idee stieß weltweit auf Interesse und Anerkennung, Journalisten und Wissenschaftler pilgerten in die Niederlande, um sich die Umsetzung anzusehen. Doch die "neue Zeit" ist offenbar schon wieder vorbei.

Etwa 20 Steve-Jobs-Schulen gibt es im Land. Zu Beginn hatte De Hond noch damit gerechnet, dass es 2016 mehr als 100 sein würden. Eine ganze Reihe von Schulen, die mit dem Konzept arbeiteten, sind jedoch wieder davon abgerückt. Im März wurde bekannt, dass die Stiftung O4NT pleite ist.

Für zwei Schulen in Amsterdam hatte sie einst selbst die Trägerschaft übernommen - eine im Westen, eine im Südosten der Stadt, in beiden Fällen Viertel mit eher schwieriger Sozialstruktur. Eine der Schulen ist aus Mangel an Schülern inzwischen geschlossen. Die zweite war besser besucht, ging aber 2017 auf einen anderen Träger über. Zuvor hatte die Schulaufsicht ihr ein miserables Zeugnis ausgestellt: "Die Qualität des Unterrichts weist wichtige Mängel auf und wird von uns als sehr schwach beurteilt", hieß es in einem Bericht. Die Einrichtung wurde unter verschärfte Aufsicht gestellt. Die meisten niederländischen Schulen sind in der freien Trägerschaft von Stiftungen, Kirchen oder Organisationen und verfügen über eine sehr hohe Autonomie. Da sie aber staatlich finanziert werden, unterliegen sie zugleich der Schulaufsicht - und müssen ihren Unterricht entsprechend überprüfen lassen.

Die Suche nach den Gründen für den Misserfolg gestaltet sich schwierig. Maurice de Hond hatte im vergangenen Sommer angekündigt, sich nicht mehr öffentlich zum niederländischen Bildungswesen äußern zu wollen. Sein Sohn hat inzwischen das Unternehmen übernommen, das die Software an die übrigen Steve-Jobs-Schulen vermietet und ihnen bei der Umsetzung des Unterrichtskonzepts hilft. Auch er reagiert nicht auf Anrufe und schriftliche Anfragen. Die Leiterin einer Schule, die früher mitgemacht hat, bittet um Verständnis - zum Thema O4NT wolle man sich nicht mehr äußern.

Ein großes Problem waren offenbar die Finanzen: Die jährlichen Technik- und Softwarekosten hätten bei deutlich mehr als 10 000 Euro gelegen, sagt Jan Oosterhof. Eine finanzielle Belastung, die für sein Haus zu hoch war. "Das Modell war einfach zu kommerziell ausgerichtet", meint auch Otto Vrijhof, Leiter der Rotterdamer Grundschule De Vierambacht. Wie Jan Oosterhof sagt er, dass die Grundidee vom personalisierten Lernen mit dem iPad gut war. Trotzdem rückte auch seine Schule wieder von dem Konzept ab. Dort spielen Tablets weiterhin eine große Rolle, aber die Schule hat deren Einsatz zurückgefahren, und der Unterricht findet wieder im Klassenverband statt in Workshops statt.

In Deutschland wird emotional über Nutzen und Risiken von Computern in Schulen diskutiert. Gegner und Befürworter stehen sich häufig unversöhnlich gegenüber. In den Niederlanden verlaufe die Debatte ein bisschen nuancierter, sagt Joost Meijer. Der Psychologe ist der Frage nachgegangen, was Tablets für die Motivation bedeuten, und fand heraus: Sie haben keinen besonders großen Einfluss. Sein Team am Kohnstamm-Institut für Bildungsforschung der Universität von Amsterdam untersuchte bei vier Apps, ob sie den Spaß am Lernen vergrößern: zwei für den Englischunterricht an Grundschulen, eine für Deutsch und eine für Mathe an weiterführenden Schulen. Nur bei der Mathe-App stellten die Forscher einen deutlichen Effekt fest: Die Schüler hatten mehr Freude als andere Gleichaltrige, die den Stoff ohne die App bewältigten. Bei den anderen Anwendungen stellten die Forscher keinen signifikanten Unterschied fest. Joost Meijer glaubt, dass Tablets bei einfacheren Aufgaben gute Dienste leisten können, etwa beim Vokabellernen oder bei Rechenübungen. Schwieriger sei es bei komplexen Lernprozessen. "Wir müssen noch mehr wissen über die Bedingungen, unter denen Informationstechnik wirklich etwas zum Lernen beiträgt."

Deutschland steht "noch ziemlich am Anfang"

In Deutschland, das haben verschiedene Studien gezeigt, kommen Computer so selten im Unterricht zum Einsatz wie in keinem anderen Industrieland. Das will die Politik jetzt ändern: Dorothee Bär, Staatsministerin für Digitalisierung im Kanzleramt, sagte der Bild am Sonntag, dass in Zukunft jeder Schüler ein Tablet benutzen soll.

Das Forum Bildung Digitalisierung, ein Zusammenschluss von mehreren großen deutschen Stiftungen, setzt sich für die Digitalisierung des Bildungsbereichs ein. Vorstand Nils Weichert teilt aber auf Anfrage auch mit: "Nur über geeignete Schul- und Unterrichtskonzepte können digitale Technologien dabei unterstützen, schulische Herausforderungen wie Bildungsgerechtigkeit, Integration oder Inklusion anzugehen." Auf der Homepage des Forums werden auch niederländische Schulen als Vorbilder bei dem Thema genannt. "Die Schulen in den Niederlanden haben viel Freiraum, und das ist hilfreich auf dem mutigen Weg, die besten Ideen und Konzepte zu finden und umzusetzen", schreibt Weichert. "Das ist ein Prozess, bei dem wir in Deutschland noch ziemlich am Anfang stehen."

Jan Oosterhof von der Beatrix-Schule ist überzeugt, dass die Digitalisierung des Unterrichts voranschreiten wird und in einigen Jahren viel mehr Schulen so arbeiten werden wie seine schon heute. Aber er warnt davor, das Tablet als etwas Heiliges zu betrachten. Im Schnitt seien seine Schüler etwa anderthalb Stunden pro Tag mit dem iPad beschäftigt. Dass Kinder auch lernen, Bücher zu lesen und mit der Hand zu schreiben, ist für ihn selbstverständlich.

Ein Problem der Steve-Jobs-Schulen bestand seiner Meinung nach darin, dass der Computer zu sehr im Mittelpunkt des Denkens stand. "Manche Schulen schaffen sich erst die Technik an und überlegen dann, wie sie den Unterricht anpassen." Das aber sei der falsche Weg. Erst müsse man wissen, wie der Unterricht aussehen soll - danach könne man sich überlegen, ob der Computer dabei helfen kann. "Das iPad ist ein Mittel - kein Zweck an sich."

© SZ vom 16.04.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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