Bologna-Reform:Der Gang ins Ausland wird immer schwieriger

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Das Transfersystem ähnelt dem sogenannten Kobra-Effekt. Eine Kobra-Plage in Indien veranlasste den Gouverneur der britischen Kronkolonie zu der Entscheidung, eine Prämie für jeden abgelieferten Schlangenkopf auszuloben. Statt die frei lebenden Schlangen zu töten, gingen die Inder jedoch schon bald dazu über, Kobras zu züchten, weil sie so mit deutlich weniger Aufwand ihre Prämien kassieren konnten. Als der Gouverneur davon erfuhr, schaffte er das Kopfgeld ab, worauf die KobrasTeaser für die Züchter wertlos wurden und von ihnen in die Freiheit entlassen wurden. Wie man durch das Kobra-Tötungs-Förderungsprogramm am Ende mehr Kobras hatte, so hat man durch das Mobilitätsförderungsprogramm am Ende mehr Immobilität der Studierenden.

Ein Auslandssemester funktioniert seit der Bologna-Reform nur noch, weil inzwischen die Prüfungsämter angehalten werden, die Studienleistungen aus dem Ausland "großzügigst anzurechnen". Wenn eine Veranstaltung zwei Leistungspunkte zu wenig hat, dann werden die fehlenden Punkte in einem magischen Verwaltungsakt mit hinzugezählt. Wenn ein Seminar nicht den Ansprüchen der Heimatuniversität entspricht, wird dies in den Prüfungsämtern kurzerhand angeglichen. Wenn man das Kreditpunktesystem auch nur halbwegs ernst nimmt, dann ist die von einigen Rektoraten und Präsidenten auch offiziell geäußerte Aufforderung zur "flexiblen Anrechnung" nichts als eine Aufforderung an die Prüfungsämter, "brauchbare Illegalität" walten zu lassen. Weswegen hält die Bildungspolitik aber dann an diesem ECTS-Punkte-System fest, obwohl es sich als Mobilitätsverhinderungsprogramm entpuppt hat? Weswegen wird das Punktesystem, das an den Hochschulen zu kafkaesken Bürokratisierungserscheinungen geführt hat, nicht einfach eingestellt?

Kein Bildungs- oder Wissenschaftsminister wagt es noch, die ECTS-Punkte aktiv zu verteidigen - zu offensichtlich sind die negativen Effekte. Die abstrakten Zeiteinheiten der Kreditpunkte sind noch nicht einmal zwischen europäischen Staaten standardisiert. Für den Erwerb eines Leistungspunktes sollen Studierende in Deutschland, Rumänien oder auch der Schweiz 30 Stunden benötigen, in Portugal und Dänemark 28 Stunden, in Finnland 27 Stunden, in Estland 26 Stunden und in Österreich, Italien oder Spanien 25 Stunden. Für ein formal gleichrangiges Bachelorstudium mit 180 ECTS-Punkten müssen also Studenten in Österreich 900 Stunden weniger aufbringen als ihre Kommilitonen in Deutschland. Diese Regelung, die auf eine übereilte Einführung zurückzuführen ist, ist letztlich aber egal, weil Studien gezeigt haben, dass zwischen den für Veranstaltungen, Prüfungen und Selbststudium in ECTS-Punkten kalkulierten Zeiteinheiten und den real von den Studenten verwendeten Zeiten ohnehin kaum Übereinstimmungen bestehen.

Angesichts des hohen Fiktionsgehalts der bildungspolitischen Planzahlen für jeden einzelnen Studiengang wirken die Kalkulationen in den sozialistischen Planwirtschaften der UdSSR, der DDR oder Albaniens im Nachhinein fast schon realitätsnah. Aber trotz dieses Fiktionsgehalts hat sich bisher kein Bildungspolitiker an die Zurücknahme dieses Planungsinstruments herangewagt.

Der Grund ist nicht etwa eine inhaltliche Überzeugung, sondern eine inhaltliche Verhakung der europäischen Bildungspolitiker. Die Einführung der ECTS-Punkte mag - so das inzwischen zu hörende Zugeständnis - ein Fehler gewesen sein, aber als einzelnes Bundesland, als Kanton oder Region könne man aus dem europäischen Konzert nicht ausscheren. Zu viele Staaten, so das Argument, hätten sich schon auf eine gemeinsame Vorgehensweise geeinigt. Selbst Staaten wie Moldawien, Russland oder Kasachstan, die normalerweise nicht unbedingt zu den Referenzländern der EU gerechnet werden, würden sich inzwischen zu den Prinzipien eines gemeinsamen europäischen Hochschulraums bekennen und hätten das Leistungspunktesystem mühsam eingeführt. "Bolognaropa" erstrecke sich, so die Argumentation, jetzt schon von Tromsø bis Nikosia, von Reykjavik bis Wladiwostok, da gebe es bei aller berechtigten Kritik an den bürokratischen Auswirkungen des Leistungspunktesystems einfach keinen Weg mehr zurück.

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