Wenn Frank-Walter Steinmeier an diesem Freitag in der Frankfurter Paulskirche der Grundschule zu ihrem 100. Geburtstag gratuliert, dann wird er, so viel steht vorher schon fest, auch über ihre Bedeutung für Demokratie und Zusammenhalt sprechen. Der Bundespräsident wird daran erinnern, wie zutiefst demokratisch, ja revolutionär diese im Juli 1919 in der Weimarer Verfassung verankerte Neuerung war: Die "für alle gemeinsame Grundschule" sollte die gefährlich tiefen Gräben zwischen den sozialen Klassen überbrücken. Sie sollte einen Bildungsweg bieten, den Kinder trotz aller Unterschiede zwischen ihren Elternhäusern friedlich beschreiten können.
Die Schöpfer der ersten demokratischen Verfassung Deutschlands haben damals heftig gestritten. Denn wie lange Kinder gemeinsam lernen sollten, war eine Machtfrage zwischen reformerischen und konservativen Kräften. Und das ist sie immer noch. Vier Jahre - dieser Weimarer Kompromiss wird immer dann zum Konflikt, wenn das gegliederte Schulsystem, das auf der Grundschule aufbaut, zur Debatte steht. Während Anhänger des gemeinsamen Lernens fordern, die Grundschule auf sechs Jahre oder die ganze Schulpflichtzeit auszuweiten, sind Verfechter des nach Leistung getrennten Lernens strikt gegen jede Verlängerung.
Bayerische Widerstände
Traditionell massiv ist der Widerstand in Bayern, wo für Kinder der Ernst des Leben spätestens nach den zweiten Sommerferien beginnt, zwei Jahre vor dem gefürchteten "Übertrittszeugnis". Auch als 1947 die Alliierten fanden, es täte der Demokratisierung der Deutschen gut, wenn sie künftig länger in eine Gemeinschaftsschule gingen, stand Bayern an der Front der Widersacher vorn. Das ist die Enttäuschung in der Geschichte der Grundschule: Es ist ihr bis heute nicht vergönnt, Kindern mehr Zeit für eine gemeinsame Basisbildung zu geben. Nur Brandenburg und Berlin gewähren sechs Jahre. Woanders siegen die Beharrungskräfte. Wie stark sie sind, war 2010 in Hamburg zu sehen, als Eltern per Volksentscheid die sechsjährige Primarschule zu Fall brachten. Dass im schon damals gelobten Schulsystem Schwedens die Kinder neun Jahre in die Grundskola gehen, war dabei egal.
Umfrage:Ja zu längerem gemeinsamen Lernen, Jein zur Inklusion, Nein zu Exzellenzunis
Viele Reformen, die das Bildungssystem gerechter machen könnten, wären mehrheitsfähig. Nur beim Geld wird es kompliziert.
Grund zum Feiern gibt es trotzdem. In keiner Schule nehmen Lehrer Kinder in ihrer Verschiedenartigkeit so an wie in der Grundschule. Keine Pädagogik und keine Didaktik gehen so vom Kind aus wie die in der Grundschule. Und nirgends sonst können so viele Grundlagen für das sozialen Miteinander gelegt werden. Lesen, Schreiben, Rechnen, die fachliche Erkundung der Welt - das geht in der Grundschule einher mit dem Von- und Miteinander-Lernen und dem Einüben von Anderssein als Normalität.
Deutschland hat diese Schule des Zusammenlebens jetzt so nötig wie lange nicht mehr. Sie schafft nicht alles, das ist klar. In Ghettos hat sie es schwer, sie kann die soziale Trennung durch eine falsche Wohnpolitik nicht ungeschehen machen. Aber selbst dort können Grundschulen Kindern ungeahnte Chancen geben.
Steinmeier kann vieles ansprechen. Den Grundschullehrermangel, von dem man seit ein paar Tagen weiß, dass er gravierender ist als gedacht. Die Herausforderung von Integration und Inklusion. Aber wird er auch darüber sprechen, dass der Gesellschaft in der Ära ihres Auseinanderdriftens eine längere, verbindende Grundschule gut täte? Das Gebiet ist vermint. Es sollte trotzdem betreten werden.