100 Jahre Grundschule:Eine für alle

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Schulklasse von 1919: Anschauungsunterricht für die Schülerinnen der Rückert-Schule in Berlin. (Foto: SZ Photo)

Mit der Weimarer Verfassung kam auch die Grundschule - und blieb bis heute. Aber schon damals wurde heftig darüber gestritten, nach der wievielten Klasse sich die Schulwege der Kinder trennen sollten.

Von Max Gilbert

Wenn sich Lehrer zu einer Tagung versammeln, ist das normalerweise kein Termin, bei dem ein Staatsoberhaupt vorbeischaut. Ganz anders Frank-Walter Steinmeier am kommenden Freitag: Der Bundespräsident reist nach Frankfurt zum Kongress des Grundschulverbands und wird in der Paulskirche eine Grundsatzrede zur Bedeutung der Grundschule für die Demokratie halten. Der Anlass: Die Schule für die Jüngsten wird 100 Jahre alt.

Die "für alle gemeinsame Grundschule" wurde mit der Weimarer Reichsverfassung von 1919 beschlossen. Das war, zumindest auf dem Papier, eine gesellschaftliche Revolution. Damals bekamen Kinder aus wohlhabenden Familien noch Hausunterricht, ärmere Kinder gingen in überfüllte Volksschulen. Auch die Trennung nach Geschlechtern sowie evangelischen und katholischen Schülern war üblich. Mit der neuen Verfassung kam die allgemeine Schulpflicht. Die für alle verpflichtende Grundschule sollte in der jungen Weimarer Republik Standesunterschiede überbrücken und Gesellschaftsschichten zusammenführen.

Doch die Realität sah meist anders aus. "Eine 'Schule für alle' war das damals nicht wirklich", sagt der Bildungsforscher Heinz-Elmar Tenorth, emeritierter Professor an der Humboldt-Universität Berlin. Körperlich oder geistig behinderte sowie "sittlich gefährdete" Kinder waren von den neuen Gesetzen ausgenommen, Privatschulen blieben erlaubt. "Die alten Milieuprivilegien sowie Religionsvorbehalte blieben teilweise bestehen", so Tenorth.

Sechs gemeinsame Schuljahre gibt es nur in Berlin und Brandenburg

"Die wahre Errungenschaft von damals ist, dass die Schulbildung überhaupt eine Angelegenheit von Staat und Öffentlichkeit wurde", sagt der Bildungshistoriker. Nicht jedem gefiel das. Die Kirche verlor durch die Verfassung viel von ihrer Macht im Bildungswesen an den Staat. Nur gegen starke Widerstände der Koalitionspartner erkämpfte die katholische Zentrumspartei, dass die Kirche ihre Konfessionsschulen behalten durfte.

Auch über die Dauer der Grundschulzeit wurde heftig gestritten. Die Anhänger der neuen Schulform forderten acht gemeinsame Schuljahre, die Gegner wollten sie möglichst kurz halten. Am Ende einigte man sich auf vier Jahre. Die Grundschule war zudem nur ein Teil der Volksschule - ohne eigene Lehrer, Schulleitung und Organisation. "Das kam erst mit der Grundschulreform in den 1960ern", sagt Tenorth. "Sie gab der Grundschule ihre Identität." Auch die Trennung der Konfessionen wurde erst dann aufgehoben; bis zur Inklusionsdebatte dauerte es noch viele weitere Jahre.

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Was die heutige Grundschule mit der von damals noch gemein hat? Auf 1919 gehe ein elementares didaktisches Prinzip zurück, sagt der Bildungsexperte: "Vom Kind aus zu denken, ihm die Welt zu eröffnen und es mit grundlegender Bildung an wissenschaftliche Denkweisen heranführen."

Heute gilt die Grundschule in Deutschland als Erfolg. Eine längere Gemeinschaftsschule, wie ursprünglich geplant, gibt es aber auch 100 Jahre später nicht. Nur in Berlin und Brandenburg lernen die Kinder sechs Jahre zusammen. "Ein Paradebeispiel für gemeinsame, demokratische Bildung sind die grundskolas in den skandinavischen Ländern", sagt Tenorth. In Schweden etwa dauert die Grundschule ganze neun Jahre.

© SZ vom 10.09.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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