Wolfsauslassen in Rinchnach:Zerissene Kinder, zerfleischte Männer

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"Lurte auf diesem Platz allhier, ein Wolf, ein grimmig wildes Tier ...": Im Bayerischen Wald lebt die Erinnerung an die Wölfe lebhafter fort als anderswo. Das liegt an einem uralten Brauch.

Hans Kratzer

Ein aus Italien zugewanderter Wolf versetzt gerade das bayerische Oberland in Aufruhr. Die Urängste, die er in der Bevölkerung erweckt, rühren wohl daher, dass Bayern früher von so mancher Wolfsplage heimgesucht wurde. Dutzende von Ortsnamen klingen noch heute wie eine Mahnung: Wolfsegg, Wolfsleben, Wolfswinkel, Wolfsgrub...

Das Läuten von großen Kuhglocken soll alle bösen Wölfe vertreiben: Noch heute pflegen die Bewohner von Rinchnach an Martini den alten Brauch des Wolfsauslassens. (Foto: ddp)

Schien die Wolfsgefahr mit dem Aufkommen der Kugelbüchsen bereinigt zu sein, so hatte sich im Dreißigjährigen Krieg das Blatt nochmals gewendet. Das Land war meilenweit verwüstet, und plötzlich tauchten die Wölfe wieder auf. Von Böhmen her sind sie rudelweise in Bayern eingefallen.

Schauergeschichten und Marterl künden von zerrissenen Kindern und zerfleischten Männern, besonders aber von jungen Mädchen, die heimliefen, aber nie angekommen sind. Anno 1670 sind in Bayern 32 Wölfe erlegt worden, erst im frühen 19. Jahrhundert werden sie langsam rar. Auf der alten Wolfssäule im niederbayerischen Neufraunhofen können wir sogar noch die 350 Jahre alte Inschrift lesen: "Lurte auf diesem Platz allhier, ein Wolf, ein grimmig wildes Tier ..."

Dieses wilde Tier hatte ein Mädchen totgebissen. Auch in Rappoltskirchen im Landkreis Erding wurde 1810 eine Näherin auf dem Nachhauseweg von einem Wolf getötet. Da er sein Opfer wohl verschleppt hatte, wurde an dieser Stelle ein immer noch vorhandenes "Wolfsmarterl" errichtet. 1826 wurde in Reit im Winkl der damals letzte bayerische Wolf geschossen.

Im Bayerischen Wald aber lebt die Erinnerung an die Wölfe lebhafter fort als anderswo, was an einem alten Hirtenbrauch liegt. Um Martini (11. November) herum erzeugen die sogenannten Wolfauslasser mit Kuhglocken und Peitschenknall wie eh und je einen schaurigen Lärm.

Einst mussten die Hirten auf ähnliche Weise die Wölfe und Bären vom Vieh fernhalten, das an Martini in die Ställe getrieben wurde. In Rinchnach wird das Spektakel als großes Volksschauspiel inszeniert. Wolfaustreiber sind sogar im Guinness-Buch der Rekorde gelandet. In Langdorf hatten einst 552 Wolfauslasser einen Lärm gemacht, der wohl auch den jetzigen Wolf im Oberland erschrecken würde.

© SZ vom 11.11.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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