"Achtung, bitte!" spricht Georg Schmiedleitner ins Megafon und wendet sich vom Tisch des Regieteams zu den Schaulustigen. "Was Sie heute sehen, ist eine öffentliche Probe für den Lebkuchenmann!" Der bekannte Regisseur aus Österreich, der auch regelmäßig am Staatstheater in Nürnberg inszeniert, hat an diesem Nachmittag auf den Weißenburger Marktplatz geladen. Es ist leicht windig, aber seine zerzauste Frisur - das werden die Zuschauer in den folgenden zwei Stunden noch erleben - ist eher ein Ausdruck der energiegeladenen Künstlerpersönlichkeit als Folge des Wetters.
"Erste Szene, Zeitungskorso!", ruft Schmiedleitner, woraufhin 14 Frauen und Männer über den Platz eilen, der provisorisch als Bühne markiert wurde, das Weißenburger Tagblatt in der Hand. "Und: blättern, bitte! Und: bewegen!" Sie blättern, sie laufen, am linken Rand spielen drei Musiker einen apokalyptischen Soundtrack, während die Laiendarsteller Schlagzeilen herausschreien: "Letzte Kampfhandlungen gegen amerikanische Panzer kurz vor der Kapitulation!" "1525 Bauernaufstand blutig niedergeschlagen!" "Finanzskandal wird aufgedeckt! Stadträte vor dem Aus!" Schmiedleitner springt auf und greift zum Megafon. "Stopp! Alles noch einmal! Ihr müsst das viel mehr veröffentlichen!" Rasch geht er zu seiner Zeitungslesermannschaft nach vorne, weil es sich aus der Nähe doch besser erklären und vormachen lässt. "Den Text brüllen! Wie eine Sensation! Das ist das Tagesgeschehen, das die da" - gemeint ist die wachsende Menge der Zuschauer - "erfahren müssen. Das Publikum mag es, wenn man die Sätze versteht!"
Es wird ein Theaterstück geprobt, an dem sowohl Laien als auch Profischauspieler mitwirken. Der österreichische Schriftsteller Franzobel hat es eigens für Weißenburg geschaffen. Und die vom Autor imaginierten Schlagzeilen aus dem Weißenburger Tagblatt deuten es schon an: Es wird ein wilder Ritt durch die vergangenen Jahrhunderte werden, nur Weißenburgs Geschichte als Römersiedlung wird ausgespart. Autor Franzobel konnte sich dafür nicht recht begeistern. Bevor die Kabarettistin Claudia Bill einen sensationellen ersten Auftritt als gruselige Erlkönigin hinlegt, schickt Regisseur Schmiedleitner eine kurze Erklärung zum Inhalt durchs Megafon: "Die Geschichte, die wir hier erzählen, ist wie ein Märchen für Erwachsene."
Noch ist das Stück nicht veröffentlicht. Die Macher verraten, dass "Der Lebkuchenmann" eine Mischung aus Geschichtszapping und Fantasiereise wird. Letztlich soll es um die Frage gehen, was man aus der Geschichte lernen kann. Geht man von der öffentlichen Probe aus, wird Schmiedleitner es in großen Bildern, mit Lust am Grotesken und schnellem Tempo inszeniert.
"Der Lebkuchenmann" wird in diesem Sommer zehnmal aufgeführt werden, nicht auf dem Marktplatz, sondern im Bergwaldtheater, das sich ein paar Fahrminuten entfernt auf einer Anhöhe im Wald versteckt. Die Stadt hofft, dass sich auch viele Theaterbegeisterte aus München und Nürnberg für die Freilichtaufführungen in der mittelfränkischen Kleinstadt interessieren. Sie hat sich das Projekt etwas kosten lassen und Schmiedleitner mit einem großzügigen Budget ausgestattet. Die Titelrolle wird von Andreas Leopold Schadt verkörpert, der vielen aus dem Franken-"Tatort" bekannt sein dürfte.
Natürlich wäre es schön, wenn die für eine 20 000-Einwohner-Stadt beträchtlichen Ausgaben wieder eingespielt würden, doch für viele Fans des Projekts ist das zweitrangig. Sie sehen den Lebkuchenmann als ein Stück im Stück, das schon längst begonnen hat. Eines, das im wirklichen Leben spielt und in dem sich im Idealfall am Ende ein ganzer Ort vom Kulturvirus infizieren lässt. Verfasst wurde es von einer kleinen Gruppe von kulturverrückten Bürgern, der ein Buchhändler und ein Journalist angehören. Sie haben dem Stadtrat erst die Idee mit dem Stadtschreiber schmackhaft gemacht und konnten ihn dann auch noch für das Theaterprojekt gewinnen. Sie haben beobachtet, wie schon Franzobels Gastspiel als Stadtschreiber einiges ausgelöst hat. Freuten sich, als plötzlich viele Weißenburger über die Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt sprachen, weil "ihr Franzobel" dort die Eröffnungsrede halten durfte. In dieser Meta-Handlung könnte die Uraufführung des Lebkuchenmanns am 12. Juli der krönende Abschluss sein.
Schmiedleitner selbst spricht davon, dass er durch die Einbindung der ganzen Stadt "eine theatrale Skulptur" schaffen will. Was die Arbeit mit so vielen Laien und professionellem Anspruch angeht, kann er als Wiederholungstäter gelten, hat er doch in Österreich mehrere Jahre lang mit der Initiative "Theater Hausruck" auf diese Art gearbeitet und dabei auch zeitgeschichtliche oder aktuelle gesellschaftspolitische Themen aus der Region aufgearbeitet. Gerne zusammen mit Franzobel als Autor.
Im Abonnententheater befinde man sich immer ein bisschen im Elfenbeinturm, erklärt Schmiedleitner die Motivation dahinter. Bei so einem Projekt wie in Weißenburg aber, da "passiert Theater auf einmal ganz anders". Er wünscht sich, dass in der Bevölkerung eine Diskussion über Theater zustande kommt. "Dann kann Theater sehr viel."
Auf dem Marktplatz probt Klaus Winkler zum ersten Mal vor Publikum seine Ansprache. Er ist Vorsitzender des Radsportclubs RC Germania und hat beim Casting die Rolle des Bürgermeisters Minderlein ergattert. Schmiedleitner führt den Hohen Herren rempelnd vor, wie sie sich bewegen sollen. "Das ist hochgradig emotional!", feuert er sie an. "Ihr müsst's ordinärer sein!" Man kann richtig sehen, wie der Regisseur Energie in seine Darsteller pumpt. Nach der Probe schwärmt Winkler regelrecht von der Arbeit mit dem Regisseur. Der Österreicher könne Leute dazu bringen, Dinge zu tun, die sie sich selbst nie zugetraut hätten. "Georg Schmiedleitner ist ein absoluter Top-Profi. Zu sehen, wie er arbeitet und dabei mitzumachen, das ist wie ein Sechser im Lotto."
Als Bürgermeister hat Minderlein gerade noch den Kleingeist der Weißenburger gepriesen: Stolz könnten die Reichstädter sein, sagt er da mit erhobenem Krug und Franzobels Worten, "stolz, nichts von der Welt zu kennen, weil woanders ist es auch nicht anders, und wenn nicht jemand das Glück hat, hier einzuheiraten, wird er nie einer von uns". Im echten Leben lobt Winkler die integrative Kraft, die das außergewöhnlichen Theaterprojekt für seine Stadt hat. "Das wird die Leute anders zusammenschweißen", glaubt er. "Weißenburg wird danach nicht mehr dasselbe sein." Für ihn hat es sich schon verändert. Denn er hat zwar fast sein ganzes Leben in dieser Stadt gewohnt, musste aber zum Arbeiten nach Nürnberg pendeln. Jetzt hat er durch den Lebkuchenmann noch einmal neue Leute und eine ganz andere Seite seines Heimatortes kennengelernt. "Ich sehe, welche Chance diese Kleinstadt hat."
"Kultur schafft Identität", sagt Regisseur Schmiedleitner, der es gerne groß mag. Damit seine theatrale Skulptur auch wirklich gelingt, hat er in den vergangenen Monaten versucht, möglichst viele Weißenburger in die Inszenierung einzubinden. Die beiden örtlichen Theatergruppen machen mit, die Blaskapelle ist dabei und Mountainbiker vom RC Germania werden in einer Kriegsszene bedrohlich über die Hänge des Bergwaldtheaters brettern. Auch hinter den Kulissen wirken Weißenburger mit, etwa beim Bühnenbau.
Noch aber gibt es auch Skeptiker, die gar keinen Bedarf für so ein Stück über Weißenburgs Geschichte sehen. Auch deshalb zeigt sich die Schauspieltruppe schon so früh mit einer öffentlichen Probe vor dem Alten Rathaus - zwei Monate vor der Uraufführung. Das Stück wurde noch kein einziges Mal von Anfang bis Ende gespielt. Es ist der Versuch, die Begeisterung hinaus zu tragen in die kleine Stadt - ein paar Statisten könnte Georg Schmiedleitner außerdem auch noch gut gebrauchen für Weißenburgs Lebkuchenmann. Bewerbungen sind willkommen.