Hipster oder Passionsschauspieler? Eine Frage, die sich in diesen Tagen stellt in Neumarkt. Auch Daniel Mederer lässt sich seit Monaten die Haare wachsen. Inzwischen hat der 21-Jährige einen buschigen Vollbart, sein dunkelbraunes Haar fällt ihm in dicken Locken über die Schultern. In der Kleinstadt in der Oberpfalz ist er damit momentan keineswegs alleine - und mit einem Modetrend hat es ausnahmsweise nichts zu tun: Wegen der Passionsspiele, die nach zehn Jahren wieder aufgeführt werden, lassen mehrere Hundert Neumarkter die Haare wachsen und die Bärte sprießen.
Mederer spielt in dem Stück, das die letzten fünf Tage im Leben von Jesus nacherzählt, den Judas. Seit Jahren ist im Verein "Schlossspiele Neumarkt" aktiv, die Rolle des Jesusverräters ist aber seine erste Hauptrolle. Entsprechend groß ist die Nervosität so kurz vor der Premiere am zweiten Märzwochenende. "Die Leute zählen ja auf einen", sagt Mederer, der im normalen Leben als Erzieher arbeitet. Zu dem Interview am Set erscheint er in seiner Kutte. Es ist das Kostüm, das er als Judas trägt. Es ist ein Abend Ende Februar, bis zur Premiere sind es nur noch zehn Proben.

Mederer ist mit Abstand der jüngste Schauspieler, den Regisseur Michael Ritz für eine der elf Hauptrollen ausgewählt hat. Das Mindestalter für eine Rolle sei 20 Jahre, sagt Mederer. Unter den Nebendarstellern seien aber natürlich auch viele, die noch deutlich jünger sind. Sogar ein Einjähriger spielt im Arm der Mama mit auf der Bühne.
Die jüngste Hauptdarstellerin ist Cornelia Lang. Die 33-Jährige spielt Maria Magdalena. "Wir senken den Altersdurchschnitt schon", sagt die zierliche Industriekauffrau. Sie hat schon ein bisschen mehr Erfahrung auf der Bühne als ihr männlicher Kollege. Seit Jahren spielt sie im Musical- und Theaterverein Neumarkt. Wie Mederer hat auch Lang sich für die Rolle ihre braunen, leicht gewellten Haare wachsen lassen. Mittlerweile reichen sie ihr weit über die Brust. Bei ihr als Frau fällt das allerdings weit weniger auf als bei den vielen bärtigen Männern, die hinter und auf der Bühne umherlaufen: Jesus, Petrus, Kajafas, Apostel und Hohepriester.
Apropos Frauen. "Die Passionsspiele sind sehr männerlastig", sagt Cornelia Lang. Neben Maria Magdalena ist die Rolle der Gottesmutter Maria die einzige weibliche Hauptrolle und für die sei sie noch ein bisschen zu jung. Im Gegensatz zu Daniel Mederer hat sie sich deshalb auch nicht einfach so beworben, sondern bewusst für diese Rolle vorgesprochen. Und das obwohl oder vielleicht gerade weil es sich bei Maria Magdalena um eine komplexe Persönlichkeit handelt: "Für mich ist Maria Magdalena eine superstarke Frau, die ihrer Zeit voraus war." Lang findet sich in ihrer Rolle wieder, das Thema Emanzipation findet sie aktuell wie eh und je.
Mederer kann sich mittlerweile ebenfalls mit seiner Rolle identifizieren. "Ich glaube, dass viele schon mal in einer Situation waren, in der sie falsche Erwartungen an eine Person hatten, enttäuscht worden sind und dann falsch reagiert haben", sagt er. Natürlich sei das Verhalten von Judas extrem, der Jesus an seine Häscher verraten hatte, aber letztlich müsse man die Figuren als Archetypen begreifen, glaubt Lang. "Ein bisschen Judas steckt doch in jedem von uns." Gerade aber, weil er seine Rolle intensiv lebt, muss Mederer aufpassen, nicht allzu sehr eins mit der Rolle zu werden: "Ich bin auf der Bühne die ganze Zeit am Stänkern und ich merke, dass ich am Ende von so einem Probetag immer ein bisschen geladen bin."
Die Passionsspiele erzählen den Leidensweg Jesu. Kaum eine Geschichte aus der Bibel ist so bekannt, keine ist so zentral für das Christentum. Anfangs habe sie sich Sorgen gemacht, dass sie von den anderen Schauspielern gefragt werden würde, wie häufig sie in die Kirche gehe, sagt Cornelia Lang. Nicht sehr oft nämlich. Obwohl sie nicht sonderlich religiös sei, habe sie sich mit der Zeit aber von alleine immer mehr mit der Geschichte auseinandergesetzt. "Plötzlich ist das, was auf der Bühne passiert, nicht mehr nur das, was in der Bibel steht, sondern ein Krimi, ein Abenteuer", sagt Lang. Das habe sie selbst überrascht, sei aber auch ziemlich cool.
Alle Beteiligten machen ehrenamtlich mit
So cool, dass sie dafür in Kauf nimmt, kaum noch Freizeit zu haben. Dafür bezahlt wird sie nicht. Wie alle anderen mehr als 400 Schauspieler, Bühnenbauer und Maskenbildner sind die beiden Nachwuchstalente ehrenamtlich dabei. Die Ticketeinnahmen sollen in erster Linie die Kosten decken, aller Gewinn wird an gemeinnützige Organisationen gespendet. In ihrem Bekanntenkreis löst das bei einigen Kopfschütteln aus. Lang und Mederer ist das egal. "Wenn man mitkriegt, was da mit so vielen unterschiedlichen Menschen entsteht, dann ist das sehr beeindruckend", sagt Lang.
Um sich auf ihre Rollen vorzubereiten, haben sich Mederer und Lang einige Filme angeschaut, viele Bücher gelesen und sich mit den historischen Figuren beschäftigt. Vor jeder Probe machen sie Stimmübungen, üben ihren Text. Anfangs hätten sie auch noch versucht, sich durch gemeinsames Joggen fit zu halten, doch dafür fehle schlicht die Zeit. An vier Tagen die Woche wird seit Anfang Januar geprobt, beide arbeiten nebenbei weiterhin 40 Stunden in ihren Jobs. Das führe manchmal zu fast absurden Situation, sagt Lang. "Gerade habe ich noch die letzten Rechnungen geschrieben und jetzt muss ich Füße salben."

Weder Mederer und noch Lang haben sich die Passionsspiele zuvor als Zuschauer angesehen. Sich alte Aufnahmen anzuschauen, ja das habe sie sich kurz überlegt, sagt Lang. Letztlich habe sie sich jedoch dagegen entschieden, denn es sei wichtig, nicht eine andere Darstellung von Maria Magdalena zu imitieren, sondern selbst in die Rolle zu finden. Auch an der über die Landesgrenzen hinaus bekannten Konkurrenz in Oberammergau orientieren sie sich deshalb nicht, sagen Lang und Mederer.
Vergleichen ließen sich die Passionsspiele in Neumarkt mit denen in Oberammergau sowieso nicht, sagt Mederer. Aufgrund der Bekanntheit und Größe der Aufführung sei man in Oberammergau ganz anders aufgestellt. In das Passionstheater in Oberammergau passen mehr als doppelt so viele Besucher wie in die Kleine Jurahalle in Neumarkt, schon zwei Jahre vor der ersten Aufführung werden die Schauspieler der Passionsspiele in den bayerischen Alpen medienwirksam bekannt gegeben, alle Rollen werden doppelt besetzt. In Neumarkt hingegen gibt es keinen Plan B, jede Rolle ist alternativlos. "Solange wir laufen können, solange wir reden können, solange stehen wir auch auf die Bühne", sagt Mederer. "Als Ausrede gilt nur der Tod", fügt Lang mit einem Lachen hinzu. Das bedeutet: Vom 9. März an gilt es 18 Tage durchzuhalten, komme, was da wolle.
Und danach? "Ich bin froh, wenn es vorbei ist und dann endlich der Bart und die Haare ab kommen", sagt Mederer. Was sie danach mit der vielen freien Zeit machen werden, wissen sie beide nicht so recht. Die knapp fünf Monate seit den ersten Proben im vergangenen Oktober, sie fühlen sich bereits jetzt an wie Jahre.
Einige Jahre wird es auch dauern, bis sie sich erneut für eine Rolle bei den Passionsspielen in Neumarkt bewerben können. Zehn, um genau zu sein. Der Ursprung der Spiele liegt im 17. Jahrhundert, seit 1989 finden sie alle zehn Jahre statt. Und ganz ausgeschlossen ist es tatsächlich nicht, dass sie dann noch einmal den Judas und die Maria Magdalena spielen werden. Thomas Fries, der in diesem Jahr den Jesus spielt, hat ihn auch schon 2009 verkörpert.