SZ-Serie: Dem Schnabel nach:Fressen, was das Zeug hält

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Der Nachwuchs von Schnepfingerin legt ein rasantes Wachstum hin. Die Jungen des Brachvogel-Weibchens bekommen außerdem eine Art Überlebenstraining. So lernen sie Gefahren und Feinde kennen

Von Christian Sebald, München

Es dürfte jetzt gut zwei Wochen her sein, dass Schnepfingerin Nachwuchs bekommen hat. Und obwohl noch niemand die Jungvögel zu Gesicht bekommen hat, sind sich die Experten vom Landesbund für Vogelschutz (LBV) sicher, dass wenigstens ein junger Brachvogel quicklebendig ist und gut gedeiht. "Die Signale des GPS-Senders von Schnepfingerin sind so eindeutig, dass wir überhaupt keinen Zweifel daran haben", sagt der LBV-Mann Markus Erlwein. "Wir können nur nicht sagen, ob es ein, zwei, drei oder gar vier Nachkommen sind, die Schnepfingerin aufzieht. Aber dass sie wenigstens einen Jungvogel betreut, steht fest."

Die Entfernung zwischen der LBV-Zentrale im mittelfränkischen Hilpoltstein, wo auf den Computern die Bewegungsdaten von Schnepfingerin eingehen, und dem Revier des Brachvogelweibchens, das nahe Dingolfing im Königsauer Moos liegt, beträgt knapp 120 Kilometer Luftlinie. Dank der Präzision des GPS-Senders können Erlwein und die anderen Experten aber die Unternehmungen der Brachvogel-Familie beinahe live mitvollziehen. "Bis auf einige wenige Ruhepausen sind Mutter und Junge praktisch permanent im Revier unterwegs", sagt Erlwein. "Die jungen Vögel bekommen von Schnepfingerin und ihrem Partner eine Art Überlebenstraining."

Immer unter Aufsicht: Ein Brachvogel führt ein Küken durch sein Revier. Die Nachkommen von Schnepfingerin dürften aber schon größer sein. (Foto: Wolfgang Nerb/LBV)

Dazu gehört zu allererst das Fressen. Der Brachvogel-Nachwuchs braucht sehr viel Energie. Nicht nur weil er schon wenige Stunden nach dem Schlupf das Nest verlässt und dann viel unterwegs ist. Sondern auch weil er sehr schnell wächst. Beim Schlupf sind die Kleinen ein Flaumball von gerade mal 56 Gramm Gewicht, ihr Schnabel misst um die zwei Zentimeter. Nach zwei Wochen wiegen sie bereits um 240 Gramm, ihr Schnabel ist gute drei Zentimeter lang. Und wenn sie mit ungefähr sieben Woche flügge werden, unterscheiden sie sich kaum noch von adulten Tieren. Die sind bis zu einem Kilo schwer, ihre Schnäbel sind um die 19 Zentimeter lang.

"Damit sie so ein rasantes Wachstum hinlegen können, müssen die Jungen fressen, was das Zeug hält", sagt Erlwein. "Und das tun sie." Kein Käfer ist vor ihnen sicher, keine Heuschrecke und auch keine Raupe - junge Brachvögel sind überhaupt nicht wählerisch. Selbst Bienen und Hummeln stehen auf ihrem Speisezettel, sie haben offenbar keinerlei Scheu, dass sie gestochen werden könnten. "Man hat zwölftägige Brachvogel-Küken beobachtet, wie sie Bienen auf eine Unterlage schlagen und durchkneten", berichtet Erlwein. "Durch dieses Bearbeiten, wie es in der Ornithologie heißt, entfernen sie ihnen den Stachel, so dass sie die Insekten ohne Probleme vertilgen können." Die jungen Brachvögel sind aber nicht nur auf Insekten und andere Kleintiere aus. Sie stopfen gerne auch Wiesenbeeren und alle möglichen Samen in sich hinein.

(Foto: Infografik)

Ein kleines Handicap hat der Nachwuchs freilich noch beim Fressen. Sein Schnabel ist zu kurz, als dass er damit im Boden nach Beute stochern kann - so wie das typisch ist für adulte Brachvögel. Die schreiten bisweilen stundenlang im hohen Gras auf und ab und stechen immer wieder mit ihren langen, spitzen und nach unten gebogenen Schnäbeln ins Erdreich hinein und ziehen so allerlei Würmer und anderes Getier heraus. "Die drei Zentimeter langen Schnäbel, die der Nachwuchs von Schnepfingerin jetzt haben dürfte, sind dafür einfach noch zu klein", sagt Erlwein. "Deshalb streifen die Jungvögel ihre Beute vom Boden oder von den Gräsern ab." Mit dem Im-Boden-Stochern fangen die Jungvögel erst mit fünf Wochen an, wenn ihre Schnäbel um die fünf Zentimeter lang sind.

Mit dem Fressen ist es aber nicht getan. Genauso wichtig ist, dass die Nachkommen von Schnepfingerin alles erkennen, was ihnen gefährlich werden könnte - und zwar so frühzeitig wie möglich. Dazu zählen natürlich vor allem kleine Raubtiere wie Füchse, Marder oder Wiesel. Aber auch Rabenkrähen. Vor allem zählen auch alle möglichen Störer dazu, Spaziergänger, Radfahrer oder Reiter zum Beispiel. Und natürlich Fahrzeuge - große Traktoren etwa, die auf den Feldwegen durchs Brachvogel-Revier knattern. "Wann immer so eine Störung eintritt, stoßen die Altvögel lang anhaltende Warnrufe aus", sagt Erlwein. "Die Jungvögel ducken sich dann sofort ins Gras und halten still." Dank ihres braungefleckten Gefieders sind junge Brachvögel nahezu perfekt getarnt, sie werden gleichsam eins mit ihrer Umgebung. Selbst aus nächster Nähe sind sie praktisch nicht zu erkennen. Das ist es aber nicht alleine, was die Warnrufe so wichtig macht. "Sie sind auch zentral fürs Überleben als adulte Tiere", sagt Erlwein. "Denn durch sie lernen die Jungvögel erst alle möglichen Feinde und Gefährdungen kennen und üben ein, wie sie ihnen entkommen können."

Die perfekte Tarnung der Jungtiere ist auch der Grund, warum selbst professionelle Ornithologen nur ganz selten junge Brachvögel zu Gesicht bekommen. "Im Königsauer Moos haben wir aktuell einen sehr erfahrenen Kartierer draußen, der aufnimmt, was dort alles an Vögeln brütet", berichtet Erlwein. "Selbst der hat noch keinen jungen Brachvogel entdeckt. Das einzige, was er gehört hat, sind die Warnrufe der Elterntiere, damit sich die Jungen verstecken." Solche Nachrichten sind für Erlwein und die anderen LBV-Experten natürlich ebenfalls wichtig. Bestätigen sie ihnen doch, dass sie die Daten des GPS-Geräts auf dem Rücken von Schnepfingerin richtig interpretieren.

© SZ vom 03.06.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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