"Oh mein Gott!" Leo Ryan schlägt noch jetzt die Hände über dem Kopf zusammen, wenn er an den Moment in Nürnberg denkt, den er bis heute nicht vergessen kann. Der Moment, als er Hildegard das letzte Mal sah. "Sie kam einfach quer über das Feld, auf dem alle US-Soldaten und Offiziere Stellung bezogen hatten, direkt auf mich zu. Es war, als würde die Zeit stehen bleiben!"
Es war Ende Juni 1945 und fünf in Nürnberg stationierte Einheiten hatten den Befehl bekommen, die Stadt zu verlassen und den Kampf gegen Japan zu unterstützen. Hunderte Neugierige beobachteten die militärische Abschiedszeremonie. "Präsentiert das Gewehr!", befahl der Adjutant. Gleich würde das Bataillon in Formation den Platz verlassen. "Ich habe sie erst nicht gesehen. Ich habe nur gehört, wie alle um mich herum die Luft anhielten", erinnert sich Ryan. Er war damals 23 und einer der Soldaten. Dann sah er das sechs Jahre alte Mädchen im weißen Kleid, das blonde Haar zu Zöpfen geflochten, das die Absperrung durchbrach und an den Offizieren vorbei mit erhobenem Kopf direkt auf ihn zu geschritten kam. Ryan zischte: "Oh Gott, Hildegard, nein. Schnell raus." Das Mädchen blieb stehen und hielt ihm ein Päckchen entgegen. "Hier Leo, für dich." Kaum hatte er es genommen, drehte sie sich um und ging schnurstracks zurück. "Parademarsch", befahl der Adjutant und Leo Ryan marschierte mit den anderen 500 Soldaten an Hildegard und ihrer Mutter vorbei.
Die Kinder durften bei den Soldaten bleiben
Es war das letzte Mal, dass Leo Ryan Hildegard sah. Heute ist er 93 Jahre alt, lebt in San Francisco - und würde Hildegard gerne wiederfinden.
Auch an ihre erste Begegnung erinnert er sich genau: "Es war der 10. Mai 1945. Wir waren gerade in Nürnberg angekommen und machten viel Lärm beim Ausladen unserer Laster." Kinder standen ihnen dabei im Weg und die Soldaten fingen an, mit ihnen zu scherzen.
Das Foto zeigt den US-Soldaten in Nürnberg, umringt von Kindern.
(Foto: privat)Ein blondes Mädchen mit neugierigen Augen und zum Kranz gebundenen Zöpfen fiel Leo Ryan auf. Sie schien ihn zu beobachten. Er blinzelte ihr zu. Sie reagierte nicht, beobachtete ihn aber weiter. Als die Soldaten später ihre Mensa aufbauten, war sie wieder da. Es hatte sich schnell herumgesprochen, dass Kinder hier Brote dick mit Butter bestrichen bekamen, obwohl es einen Befahl gab, keinen Kontakt mit Deutschen aufzunehmen.
Das Leid der Kinder
"Wenn du Kinder siehst, hast du wieder das Gefühl, ein Mensch zu sein und kein Soldat." So erklärt Ryan heute, warum die Männer die Kinder nie vertrieben. "Sie gehen so großzügig mit ihrer Liebe um." Es tat ihm weh zu sehen, dass manchen Kindern ein Auge fehlte oder Gliedmaßen. "Auch sie mussten dafür bezahlen, was die Deutschen den Juden und den Nachbarstaaten angetan hatten."
Das Mädchen kam jeden Tag zum Quartier und er fragte es mit seinen spärlichen Deutschkenntnissen schließlich nach seinem Namen. "Hildegard." "Ich bin Leo", sagte er. Ihre Freundschaft begann. Hildegard folgte ihm fast überall hin. Fuhr er mit dem Jeep zum Hauptquartier, saß sie auf dem Rücksitz, meist im Overall bei offenem Verdeck mit flatterndem Haar.