Es sind Fälle aus dem Alltag in Bayerns Behinderten-Einrichtungen: Ein Kind mit geistiger Behinderung und Autismus etwa hat Schlafstörungen, wandert nachts umher und bringt sich hierbei in Gefahr. Oder: Ein Jugendlicher mit komplexen Entwicklungsstörungen reißt bei aggressiven Ausbrüchen dem Personal büschelweise Haare aus, kratzt und beißt.
Die Antwort auf solche Situationen sind mitunter drastisch - Ruhigstellung im Fixierstuhl oder in vergitterten Kastenbetten, Einschließen im Zimmer, Isolierung in sogenannten Time-out-Räumen. Als sich im April Medienberichte über ruhiggestellte und weggesperrte Kinder und Jugendliche in Bayerns Behinderten-Einrichtungen mehrten, reagierte Sozialministerin Emilia Müller umgehend, brachte Aufsichtsbehörden, Sachverständige, Heimträger und Eltern von Behinderten an einen Tisch.
Am Donnerstag präsentierte die Ministerin den daraus hervorgegangenen Bericht. Und nun ist es schwarz auf weiß dokumentiert: In sieben Fällen wurden in den 104 geprüften Einrichtungen "gravierende Verstöße bei der Anwendung von freiheitsbeschränkenden Maßnahmen zu Tage gefördert", sagte Müller in München. In zwei Fällen etwa waren die Time-out-Räume nur lückenhaft einsehbar, in einem anderen Fall rügte die Heimaufsicht zum Beispiel, dass einem eingeschlossenen Jugendlichen mangels WC einfach ein Toiletteneimer ins Zimmer gestellt worden war.
Freiheitsbeschränkung:Behinderte Kinder im Bett fixiert und eingeschlossen
Immer wieder werden in Heimen aggressive Jungen und Mädchen zur Strafe eingesperrt. Das Sozialministerium will davon lange nichts gewusst haben.
Ein Ergebnis war Sozialministerin Emilia Müller indes so wichtig, dass sie es gleich an den Anfang ihrer Erläuterungen stellte: "Von keiner der 104 geprüften stationären Einrichtungen für Kinder und Jugendliche mit Behinderung wurden freiheitsbeschränkende Maßnahmen als Strafe eingesetzt." Die Ministerin macht keinen Hehl daraus, wie wichtig ihr dies ist. Bereits im Frühjahr hatte sie klargestellt: "Einsperren als Strafe darf es nicht geben." Auslöser für die umfangreiche Medienberichterstattung waren nämlich letztlich kolportierte Dokumente aus einer katholischen Behinderten-Einrichtung, die genau auf solche Strafaktionen hindeuteten.
Insgesamt aber sieht sich Müller, die stets vor einem Generalverdacht gegen Behinderten-Einrichtungen gewarnt hat, bestätigt: Die Zahl der aufgedeckten Mängel sei in Relation zur Gesamtzahl von rund 4000 untergebrachten behinderten Kindern und Jugendlichen "ein Beleg für die weit überwiegend gute und fachlich qualifizierte Arbeit" in den Heimen, heißt es im Bericht. Müller bringt es auf die Formel: "Die stationären Einrichtungen für Kinder und Jugendliche mit Behinderung werden in Bayern gut geführt."
Das Personal dort leiste "eine wertvolle und unverzichtbare Arbeit". Ins selbe Horn stieß Landes-Caritasdirektor Bernhard Piendl: "Ich spreche den Einrichtungen meinen größten Respekt und den Mitarbeitenden meine größte Wertschätzung aus", sagte er. Sie verfügten über "eine Kombination aus Kompetenz und Motivation, wie sie sich jeder Arbeitgeber nur wünschen" könne. Freiheitsbeschränkende Maßnahmen würden eng mit den Eltern und möglichst auch mit den Kindern und Jugendlichen besprochen.
Eltern mussten ihre Zustimmung zu freiheitseinschränkenden Maßnahmen geben
Hier jedoch gibt es offenbar auf Seiten etlicher Eltern eine andere Wahrnehmung: Mitgestaltung, Meinungsaustausch und Mitverantwortung seien angesichts der gegebenen Verhältnisse kaum möglich, kritisierte Petra Nölkel, die Landesvorsitzende des Deutschen Familienverbands in Bayern. Sie hatte mit Eltern von behinderten Kindern gesprochen. Ihr Fazit: Natürlich seien die erst einmal erleichtert, wenn sie endlich einen Heimplatz für ihr behindertes Kind gefunden haben. Dennoch: "Die Beteiligung der Eltern bei der Unterbringung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung wird häufig als nicht ausreichend und situationsgerecht empfunden."
Kritik hagelte es offenbar auch an der Praxis, dass Eltern quasi blanko ihre Zustimmung zu freiheitsbeschränkenden Maßnahmen geben mussten. Wie in einigen Fällen erwiesen, wurde diese Zustimmung abverlangt, um überhaupt einen Heimplatz zu bekommen. Das - und darin sind sich die vom Sozialministerium an den Tisch geholten Experten einig - kann so nicht sein. "Die Einwilligung muss kontinuierlich erneuert werden", fordert etwa auch Marcel Romanos, Chefarzt der Würzburger Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie.
Debatte um Heime:"Eingreifen heißt ja nicht wegsperren"
Den Vorwurf hatte der BR aufgebracht: In bayerischen Heimen werden behinderte Kinder und Jugendliche zu oft mit Zwang fixiert. Der Heilerziehungspfleger Andreas Walter wirbt für mehr Respekt im Umgang mit den Betreuten
Insgesamt sehen die vom Sozialministerium angehörten Experten durchaus Verbesserungsbedarf. So etwa ist für Romanos klar: "In Bayern gibt es für schwerst behinderte Kinder und Jugendliche nicht ausreichend Heimplätze, und das bringt das System an seine Grenzen." Emilia Müller zeigte sich für die Empfehlungen der Spezialisten durchaus offen. Sie präsentierte am Donnerstag einen Zehn-Punkte-Plan.
Ganz oben steht dort eine Stärkung der Elternbeteiligung, das Schaffen von Beratungs- und Beschwerdestellen, die stärkere Einbindung der betroffenen Kinder und Jugendlichen und eine stärkere Kontrolle durch die Heimaufsicht. Auch will sich Bayerns Sozialministerin auf Bundesebene dafür einsetzen, dass künftig freiheitseinschränkende Maßnahmen einer gerichtlichen Genehmigung bedürfen - so wie es bei erwachsenen Behinderten der Fall ist.
Aus Sicht der Landtagsopposition ist Müllers Zehn-Punkte-Plan indes das Eingeständnis, dass die CSU-Regierung "die Versorgung besonders schutzbedürftiger Kinder und Jugendlicher vernachlässigt" habe. "Das mussten die Kinder und Jugendlichen in bayerischen Heimen ausbaden", erklärte Kerstin Celina, die Sozialexpertin der Grünen.