Andre B. läuft los, die Polizisten hinterher. Beide rufen, halt, stopp, stehen bleiben! Polizei! Der erste Schuss: ein Warnschuss. Der zweite, nur Sekunden später, trifft Andre B. in den Nacken, durchschießt sein Halsmark aus einer Entfernung von fünf bis acht Metern. Er fällt auf sein Gesicht, ist sofort gelähmt. Auch sein Herz setzt aus. Michael K., so schildert es sein Kollege, greift zu seinem Handy und ruft seinen Einsatzleiter an, meldet Schusswaffengebrauch, so heißt es im Polizeijargon, wenn ein Beamter im Einsatz zur Waffe greift.
42 Mal haben deutsche Polizisten 2013 gezielt auf Menschen geschossen, acht Menschen sind dabei gestorben. Viermal schossen Polizisten auf einen flüchtenden Verbrecher. Keiner von ihnen wurde verletzt oder getötet, geht aus Zahlen der Innenministerkonferenz hervor.
Er habe doch auf die Beine gezielt, sagt der Schütze Michael K. immer wieder. Michael K. hat nicht mit seiner eigenen, sondern mit einer Ersatzwaffe geschossen. Das Gutachten zeigt keinerlei Mängel. Um statt der Beine den Nacken zu treffen, reicht aber schon eine kleine Abweichung des Schusswinkels, sagen Experten.
Als der Schuss fällt, läuft K.s Kollege leicht versetzt vor ihm, er hat nachher ein Pfeifen im Ohr. Zuerst tastet er seinen eigenen Oberkörper ab, aus Angst, selbst getroffen zu sein. Dann kontrolliert er Andre B.s Puls am Hals. Er fühlt nichts mehr.
Viele Menschen in Burghausen nennen den Polizisten "Mörder"
Andre B.s Freundin Karolina S. hört die Stimmen und die Schüsse im dritten Stock der Herderstraße 2. Es sind die weißen Schuhe, an denen sie Andre erkennt. Sie rennt, um ihr, um sein Leben, will ihm helfen. Doch die Polizisten lassen sie nicht zu ihm, die Spuren müssten gesichert werden. Karolina soll eine Decke holen, sie werfen sie über Andre B., auch über den Kopf. Der Notarzt ist da noch nicht einmal eingetroffen. "Ich hab mich einfach zu ihm gesetzt, und der Polizist, der geschossen hat, stand vor mir. Was überhaupt das Krankeste ist, wenn dein Freund da liegt, und du musst den Mörder noch anschauen."
Der Tatort: Im Innenhof dieser Wohnanlage fielen die Schüsse, dort spielten zur Tatzeit Kinder.
(Foto: Robert Piffer)Mörder. Für viele Menschen in Burghausen ist ein Polizist, der einen Menschen auf der Flucht erschießt, ein Mörder. Mit Plakaten haben sie demonstriert, am Tag danach, "Polizei Mörder", stand darauf. Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen Michael K. wegen fahrlässiger Tötung. Bis zur endgültigen Entscheidung, ob sie ihn anklagt oder das Verfahren einstellt, äußert sie sich nicht. Die Ermittlungen führt eine interne Stelle beim Landeskriminalamt. Bis zum Abschluss des Verfahrens ist Michael K. suspendiert, wie in solchen Fällen üblich.
Über die Sekunden, die auch sein Leben verändert haben, will er nicht reden. Er wird abgeschirmt, soll massiv bedroht worden sein. Auch sein Anwalt schweigt. Nach den Schüssen sei er ruhig gewesen, in sich gekehrt. Die Situation schien ihn bedrückt und belastet zu haben, sagt ein Zeuge, selbst Polizist. Einen Gefühlsausbruch habe er nicht gesehen, sagt ein anderer.
Der Nebenklage-Anwalt spricht von "Jagdfieber"
Vieles würde man Michael K. gern fragen. Zum Beispiel, warum plötzlich so eine Eile herrschte, Andre B. festzunehmen. Auch Steffen Ufer fragt sich das, der Münchner Strafverteidiger vertritt B.s Mutter als Nebenklägerin. Für Ufer geht es vor allem um die Verhältnismäßigkeit: Die Waffe zu ziehen, um einen zu fangen, der in der Stadt offen herumgelaufen sei, das zeuge von "Jagdfieber". "Für mich ist es unvorstellbar, mit so einer Einstellung zu einem Marihuanahändler zu gehen", sagt Ufer. In Kalifornien sei die Droge legal zu erhalten, bei den Nachbarn in den Niederlanden auch - und in Bayern werde einer deswegen erschossen.
Auf dem Sideboard in ihrer Küche hat Lili B. Fotos von Andre aufgestellt, dort liegt auch seine Sonnenbrille. Und das Handy, eine Bankkarte - all das hat sie von der Polizei zurückbekommen. Der bayerische Innenminister Joachim Herrmann hat Lili B. versprochen, sich dahinterzuklemmen. Zu ihrem "großen Verlust" spreche er ihr seine aufrichtige Anteilnahme aus, schreibt er auf schwarzumrandetem Briefbogen. "Sie dürfen versichert sein, dass es mir ein großes Anliegen ist, die Umstände seines Todes genauestens aufzuklären."
Ob es aber jemals einen Prozess geben wird, ist ungewiss.