Gewalt bei den Regensburger Domspatzen:"Es ist ausgeschlossen, dass Ratzinger nichts gewusst hat"

Neue Studien zu Gewalt bei den Regensburger Domspatzen

Professor Bernhard Löffler (rechts) spricht neben Rudolf Voderholzer, Bischof von Regensburg, während einer Pressekonferenz.

(Foto: Armin Weigeldpa)
  • Eine Studie hat den Missbrauch bei den Regensburger Domspatzen von 1945 bis 1995 untersucht. Demnach waren die Vergehen massiv.
  • Die Wissenschaftler erkennen ein "abgeschlossenen System ohne persönliche Rückzugsmöglichkeiten".
  • Der Regensburger Bischof bittet die Betroffenen um Vergebung.

Von Claudia Henzler, Regensburg

Das Ausmaß der Gewalttaten bei den Regensburger Domspatzen ist seit zwei Jahren gut dokumentiert: Mindestens 500 Schüler wurden dort Opfer von körperlicher Gewalt, mindestens 67 von sexualisierter Gewalt. Die Aufarbeitung jedoch ist noch nicht abgeschlossen. Ging es erst einmal darum, die Vorfälle in den Institutionen des Chors zu dokumentieren, war offen, wie es in den Schulen, Internaten und Chören der Institution Domspatzen in diesem Umfang zu Gewalt und sexuellem Missbrauch kommen konnte. Ein Aufarbeitungsgremium, das je zur Hälfte aus Betroffenen und Vertretern des Regensburger Bistums besetzt ist, hat dafür gleich zwei Studien in Auftrag gegeben, deren Ergebnisse am Montag vorgestellt wurden.

Sie beleuchten die Jahre 1945 bis 1995 aus sozialwissenschaftlicher und historischer Sicht und kommen beide zu dem Schluss, dass es sich bei den Schulen und Internaten - zumindest in den unteren Jahrgängen - um etwas handelte, was Wissenschaftler eine "totale Institution" nennen. Der Erfolg des Chors stand in diesem System weit über dem Wohl der Kinder.

Professor Bernhard Löffler vom Lehrstuhl für Bayerische Landesgeschichte der Universität Regensburg spricht von einem "bis in die gymnasiale Unterstufe hinein ziemlich abgeschlossenen System ohne persönliche Rückzugsmöglichkeiten". Ein System, das dauernde Überwachung bis in intimste Bereiche bedeutete, das aber kaum von außen kontrolliert wurde. Vor allem in der sogenannten Vorschule, in der Dritt- und Viertklässler zu Sängerknaben gedrillt wurden, waren Demütigungen, Schläge und Ohrfeigen alltäglich und schlimmere Züchtigungen keine Ausnahme. "Gewalt bildete einen Bestandteil der täglichen Erziehungspraxis", sagt Löffler.

Der Historiker und sein Mitarbeiter Bernhard Frings haben viele Akten ausgewertet, um sich ein Bild von den Einrichtungen im Lauf der Jahrzehnte zu machen. Nach ihren Recherchen waren etwa 13 Prozent der Schüler von Gewalt betroffen, "mit dem zeitlichen Schwerpunkt der Sechziger und Siebziger Jahre".

Das Fundament war aus ihrer Sicht das "Kompetenzchaos" der Institution Domspatzen: Ein kompliziertes Gefüge aus zwei Chören, Vorschule und Gymnasium, drei Internaten (für Vorschule, Unterstufe und ältere Schüler des Musikgymnasiums), getragen von zwei Stiftungen, beaufsichtigt von diversen staatlichen und kirchlichen Stellen, habe eine Kontrolle unmöglich gemacht und viel Energie für Fragen der Zuständigkeiten absorbiert.

Das Leben war an den Maximen Ordnung und Gehorsam ausgerichtet

Bei Verantwortlichen und Mitarbeitern habe es aber auch jahrzehntelang kein Interesse an der pädagogischen und individuellen Förderung der Kinder gegeben. "Der Chor, seine Finanzierung und sein Erfolg standen stets im Zentrum und waren wichtiger als individuelles Wohlergehen der Schüler oder eine kindgerechte Pädagogik." Wobei die Erzieher im Internat lange ohnehin kaum bis gar keine pädagogische Ausbildung hatten. Auch die Ausstattung der Einrichtungen sei mangelhaft gewesen. Das Leben war an den Maximen Ordnung und Gehorsam ausgerichtet, kombiniert mit katholischen Vorstellungen von Sittlichkeit. Pädagogische Reformen hielten erst Mitte der Siebzigerjahre Einzug.

Die Regensburger Spezifika wurden durch gesellschaftliche Rahmenbedingungen wie die Ehrfurcht vor der Institution Kirche ergänzt. Die Prügelstrafe wurde in Bayern, anders als in den übrigen Bundesländern, erst 1983 verboten.

Hinzu kamen aus Löfflers und Frings' Sicht individuelle Faktoren. "Dem langjährigen Direktor der Vorschule, Hans Meier, muss man mit seinen Gewalttätigkeiten persönliche Deformationen zuschreiben, die nur als Sadismus und Allmachtsfantasien zu kennzeichnen sind", sagen sie. Unter den Bedingungen des geschlossenen Systems in der Vorschule sei das ungehemmt zum Tragen gekommen.

Auch aus Sicht der von Bund und Ländern getragenen kriminologischen Zentralstelle in Wiesbaden lag der Fehler im System. "Aus unserer Sicht sind Strukturen relevanter als Einzelpersonen", sagt Professor Martin Rettenberger, Leiter der Zentralstelle. Trotzdem seien die Beschuldigten letztlich verantwortlich für ihre Taten. Laut dem Untersuchungsbericht aus dem Jahr 2017 gelten 45 Täter als plausibel, die körperliche Gewalt angewandt haben sollen, und neun, die der sexualisierten Gewalt schuldig oder verdächtig sind.

Den früheren Domkapellmeister Georg Ratzinger beschreiben die Wiesbadener Kriminologen als expressiven Gewalttäter, der nicht zielstrebig gehandelt habe. Ihm sei vor allem als Folge von Überforderung die Hand ausgerutscht. Die Regensburger Historiker sehen Ratzinger "ambivalent". Greifbar sei die Neigung zu Jähzorn und überzogener Strenge in Drucksituationen. Anders als beim Direktor der Vorschule könne bei Ratzinger keine Rede von einem sadistischen System sein. "Da erscheinen bei ihm die Gewaltausbrüche viel eruptiver." Trotzdem trage er für die Vorfälle an der Vorschule eine Mitverantwortung: "Es ist ausgeschlossen, dass Ratzinger nichts vom Prügelregime Meiers gewusst hat, wirkungsvoll eingegriffen hat er nicht."

Während es bei der Vorstellung am Montag auch Kritik an der mangelnden Aufarbeitungsbereitschaft des früheren Regensburger Bischofs Gerhard Ludwig Müller gab, sprach dessen Nachfolger Rudolf Voderholzer den Betroffenen am Montag noch einmal sein Bedauern aus: "Ich kann es nicht ungeschehen machen und die Betroffenen nur um Vergebung bitten." Da die Vorfälle rechtlich verjährt sind, hat sich das Aufarbeitungsgremium für eine finanzielle Entschädigung eingesetzt. Nach Worten von Voderholzer hat das Bistum 3,785 Millionen Euro an 376 Personen ausgezahlt. Die Summen lagen zwischen 2500 und - in einem Fall - 25 000 Euro.

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